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Das Falsche Gewicht

Das Falsche Gewicht

Titel: Das Falsche Gewicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joseph Roth
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stürzte hinein. Und er erschrak noch mehr, als er vor einem Brand erschrocken wäre. Ein leibhaftiger Gendarm mit einem Gewehr stand da, indes Eibenschütz die Waren, die Waage und die Gewichte prüfte. Die zwei Katzen waren verschwunden.
    Der Rahm war sauer, die Milch geronnen, der Käse wurmig, die Zwiebeln faul, die Rosinen verschimmelt, die Feigen verdorrt, die Waage haltlos und die Gewichte falsch. Man schritt zur Amtshandlung. Man mußte aufschreiben. Als der Gendarm sein großes schwarzes Kaliko-Dienstbuch herauszog, war es Mendel Singer und seiner Frau, als zückte er gegen sie beide die gefährlichste von allen seinen gefährlichen Waffen. Der Eichmeister diktierte, und der rote Gendarm schrieb. Ein Feuer wäre eine Kleinigkeit gewesen.
    Die Konventionalstrafe betrug genau zwei Gulden fünfundsiebenzig Kreuzer. Bevor sie nicht erledigt waren, konnte man den Handel nicht weiterführen. Der Ankauf einer neuen Waage und neuer Gewichte kostete weitere drei Gulden. Woher nimmt ein Mendel Singer zwei Gulden fünfundsiebenzig und weitere drei? Gott ist sehr gütig, aber Er kümmert sich nicht um so winzige Beträge.
    All dies überlegte Mendel Singer. Deshalb ging er an den Eichmeister heran und nahm die Pelzmütze ab und sagte: »Euer Hochgeboren, Herr General, ich bitte Sie, streichen Sie alles aus. Sie sehen, ich habe Frau und Kinder!«
    Eibenschütz sah die hageren, erhobenen Hände, die mageren, knochigen Wangen, den schütteren, armen Bart und die schwarzen, feuchten, flehenden Augen. Er wollte etwas sagen. Er will zum Beispiel sagen: Es geht nicht, lieber Mann, es ist Gesetz. Er will sogar sagen: Ich hasse dieses Gesetz und mich auch dazu. Aber er sagt nichts. Warum sagt er nichts? Gott hat ihm den Mund verschlossen, und der Gendarm stößt Mendel Singer fort. Ein Blick von ihm genügt. Ein Blick von ihm ist wie eine Faust. Und sie gehen, mit Gewichten, Waage und dem schwarzen Buch. Wenn die Frau Mendel Singer heute noch etwas verkauft, und sei es auch nur eine einzige Mandel, wird sie auf vier Monate eingesperrt. Die paar Neugierigen und die Kinder, die draußen gelauert haben, laufen davon.
    »Das hätten wir nicht tun dürfen!« sagt Eibenschütz zu Piotrak. »Es ist trotzdem ein redlicher Mann!«
    »Redlich ist niemand!« sagt der Gendarm Piotrak, »und Gesetz ist Gesetz.« Aber selbst dem Gendarmen ist nicht ganz wohl.
    Sie fuhren ins Amt und hinterlegten die Sachen beim Schreiber und hatten beide das Gefühl, daß sie etwas trinken müßten. Gut! Sie fuhren also zur Schenke Litwaks. Es war heute Mittwoch, also Markttag in Zlotogrod, und die Schenke war voll von Bauern, Juden, Viehhändlern und Roßtäuschern. Als sich der Eichmeister und der Gendarm setzten, an den großen Tisch, an dem auf glattgescheuerten Bänken schon gute zwei Dutzend Leute nebeneinanderhockten, ging zuerst ein verdächtiges Murmeln und Raunen los, dann begann man lauter zu sprechen, und irgendeiner nannte den Namen Mendel Singer.
    Im gleichen Augenblick erhob sich ein untersetzter, breitschultriger, langbärtiger Mann von der Bank gegenüber. In einem großen Bogen spie er über den Tisch, über alle Gläser hinweg, mit meisterlicher Zielsicherheit genau in das Glas des Eichmeisters. »Alles andere kommt noch!« schrie er, und ein großer Tumult entstand. Alle erhoben sich von den Bänken, und Eibenschütz und der Gendarm versuchten, über den Tisch hinüberzusteigen. Sie erreichten die Tür aber erst in dem Augenblick, in dem der breitschultrige Bärtige sie aufgestoßen hatte. Eine Weile sahen sie ihn noch auf der weißen, beschneiten Landstraße dahinlaufen. Er lief sehr schnell, ein dunkler, geduckter Strich auf dem weißen Schnee, dem Tannenwald zu, der zu beiden Seiten die Straße säumte. Er verschwand links, als hätte ihn der Wald verschluckt. Es war Nachmittag, es begann schon zu dunkeln. Der Schnee nahm eine leicht bläuliche Färbung an.
    »Wir werden ihn schon kriegen«, sagte der Gendarm.
    Sie kehrten zurück.
    Es ließ dem Gendarmen Piotrak wirklich keine Ruhe. Hätte er nicht die volle Rüstung gehabt und die schweren Winterstiefel, die ihm aber das Reglement vorschrieb, so hätte er wohl den Leichtfüßigen verfolgen können. Er war aber sicher, daß er ihn noch finden und eruieren könnte, und das tröstete ihn. Wahrscheinlich war er ein schwerer Verbrecher. Hoffentlich war er ein schwerer Verbrecher.
    Der Gendarm Piotrak verhörte alle Leute in der Schenke, aber kein einziger wollte den Missetäter kennen.

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