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Das Falsche Gewicht

Das Falsche Gewicht

Titel: Das Falsche Gewicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joseph Roth
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den Toten erhoben, um sich dann im Grenzwald zu erhängen? Eine Untersuchung wurde eingeleitet. Auch einige Sträflinge, die man aus dem Gefängnis holte, erkannten den Mitgefangenen, den Michael Klajka. Es dauerte nur eine Woche, und man verhaftete zwei Bezirksschreiber, und sie gaben zu, daß sie bestochen worden waren und falsche Abgangszeugnisse ausgestellt hatten. Sie gestanden auch, daß Kapturak sie bestochen hatte.
    Man wartete noch eine Woche. Man verständigte vom Ergebnis der Untersuchung den Gendarmeriewachtmeister Piotrak und den Eichmeister Eibenschütz, und man gab ihnen den Auftrag, weiterhin, wie bisher, mit Kapturak in der Grenzschenke zu verkehren. Sie verkehrten auch weiterhin mit ihm und spielten Tarock. Er fühlte sich ganz sicher. Er wußte nichts von der Verhaftung der beiden Bezirksschreiber, und das Geld, das ihm die Verwandten der totgemachten Sträflinge bezahlt hatten, war längst in Sicherheit, jenseits der Grenze, beim Geldwechsler Piczemk.
    Ein paar Tage später, ziemlich früh am Morgen, kurz, nachdem er Jadlowker das Frühstück auf der Leiter hinaufgetragen hatte, hörte er ein wohlbekanntes Klingeln, das Klingeln eines Schlittens. Der Schlitten hielt, das Klingeln zitterte noch eine Weile nach, kein Zweifel, daß der Schlitten vor seinem Tor hielt. Ihm ahnte nichts Gutes, was macht so früh am Morgen ein Schlitten vor seinem Hause? Er öffnete die Fensterladen. Im Schlitten saßen der Gendarm Piotrak und der Eichmeister Eibenschütz. Er hatte gar keine Zeit mehr, die Leiter umzulegen. Er überlegte sehr schnell, daß es besser wäre, sofort hinauszulaufen und die grauenhaften Gäste zu begrüßen. Er lief also hinaus und rief, schon von der Tür her: »Welch eine Überraschung! Welch eine Überraschung!«
    Beide stiegen ab und Eibenschütz sagte: »Wir wollten Ihnen einen kurzen Besuch machen. Es ist noch zu früh, Litwak hat noch geschlossen. Wir bleiben nur ein Viertelstündchen bei Ihnen, wenn Sie erlauben, Zeit genug, um einen Schnaps und einen Tee zu trinken. Das haben Sie doch, wie?« – Es war für Kapturak kein Zweifel mehr, daß sie gekommen waren, weil sie ihn verdächtigten, er beherberge jemanden, oder er verberge zumindest etwas Verdächtiges. Er sagte: »Ich gehe den Schnaps holen«, und er verließ das Zimmer und kletterte sehr geschwind die Leiter hinauf. »Sie sind da«, rief er durch die Luke. Hinunter ging er nicht mehr die einzelnen Stufen, er glitt hinunter, mit Händen und Schenkeln an beiden Leisten der Leiter. Er rannte in die Küche, um den Schnaps zu holen. Freudig trat er wieder ins Zimmer mit der Flasche und drei Gläschen.
    »Haben Sie einen Keller?« fragte der Gendarm Piotrak.
    »Ja«, sagte Kapturak, »aber den Schnaps habe ich nicht aus dem Keller geholt. Es ist zu kalt im Keller.«
    »Woher haben Sie ihn sonst geholt?« fragte Piotrak.
    »Vom Dachboden«, sagte Kapturak und lächelte. Es war, als hätte er einen Witz gemacht und als entschuldigte er sich zugleich dafür, daß er einen gemacht hatte.
    Der rothaarige Gendarm hielt es wirklich für einen Witz und lachte. Kapturak klopfte sich auf die Schenkel und beugte sich vor. Aus Ergebenheit, nicht aus Eitelkeit, lachte er mit. Der Gendarm und der Eichmeister leerten ihre Gläser und standen auf. »Danke für die Bewirtung«, sagten sie wie aus einem Munde. Sie stiegen wieder in den Schlitten, Kapturak begleitete sie. Er sah, daß sie in die Richtung Pozloty dahinglitten.
    Als sie seinen Augen entschwunden waren, nahm er die Leiter aus dem Hof und stellte sie wieder in den Hausflur. Er war entschlossen, Jadlowker wegzuschicken, ihm ahnte nichts Gutes. Flink stieg er hinauf und öffnete die Falltür und trat ein. Er sah Jadlowker unruhig hin und her wandeln, zwischen den Stricken, an denen die Fledermäuse hingen. »Setz dich!« sagte Kapturak, »wir müssen reden!« – Jadlowker wußte sofort, worum es sich handelte. »Ich muß also fort«, sagte er, »aber wohin?« – »Wohin, das müssen wir eben überlegen!« erwiderte Kapturak. »Es scheint, daß man dich nicht mehr zu den Toten rechnen will, daher dieser unerwartete Besuch bei mir. Es tut mir leid, ich muß dich wegschicken. Du mußt selbst zugeben, daß ich dich wie ein eigenes Kind behandelt habe, obwohl ich dein Gläubiger bin. Und keinen Pfennig habe ich von dir genommen!« – »Wohin soll ich gehen?« fragte Jadlowker. Er saß jetzt frierend im Pelz auf dem Sessel. Durch die kleine, runde Dachluke, die wie ein Schiffsfenster aussah,

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