Das falsche Urteil - Roman
Bauch, dachte Van Veeteren. Und mein Darm. Den habe ich schon lange und hänge ein wenig daran.
»Sie können jederzeit anrufen und weitere Fragen stellen«, sagte die Frau. »Wir sind doch da, um Ihnen zu helfen.«
»Danke, danke«, er seufzte. »Ja, ich lasse auf jeden Fall vorher noch von mir hören. Erst mal auf Wiederhören.«
»Auf Wiedersehen, Herr Van Veeteren.«
Er blieb noch einige Sekunden mit dem Brief in der Hand stehen. Dann zerriss er ihn in vier Stücke und warf ihn in den Papierkorb.
Eine knappe Stunde später hatte er auf dem Balkon seine zwei Bratwürste mit Kartoffelsalat verzehrt. Hatte dazu Dunkelbier getrunken und mit dem Gedanken gespielt, trotz allem zum Kiosk zu gehen und eine Schachtel Zigaretten zu kaufen. Er hatte keine Zahnstocher mehr, und es war ein schöner Abend.
Sterben muss ich ja doch, dachte er.
Er hörte die Turmuhr der Kejmerkirche sechs Uhr schlagen. Auf seinem Nachttisch lagen zwei halb gelesene Romane, aber ihm war klar, dass die auch noch einige Zeit so liegen bleiben würden. Er hatte einfach nicht genügend innere Ruhe. Im Gegenteil, die Unruhe wetzte schon ihre Krallen, und es war natürlich kein Geheimnis, woran das lag.
Kein Wunder also. Die Luft war mild. Ein versöhnlicher sanfter Wind stahl sich über das Balkongeländer, die Sonne hing rot über dem Brauereidach auf der anderen Seite des Kloisterlaan. In den Fliederbüschen hinter dem Fahrradständer zwitscherten kleine Vögel.
Hier sitze ich, dachte er. Der berühmte Kommissar Van Veeteren. Siebenundfünfzig Jahre alt, achtundachtzig Kilo schwer, Bulle mit Dickdarmkrebs. In zwei Wochen werde ich mich ganz und gar freiwillig auf den Operationstisch legen und einen ganz und gar ungetesteten Schlachterlehrling elf Zentimeter meines Körpers wegschneiden lassen. 0 verdammt.
Ein leichtes Unwohlsein machte sich in seinen unteren Bauchregionen bemerkbar, aber das passierte jetzt immer, wenn er gegessen hatte. Es waren jedoch keine Schmerzen. Sondern nur diese leichte Irritation. Und dafür sollte er natürlich dankbar sein: Bratwurst war nun wirklich nicht auf
der Diätliste vertreten gewesen, die ihm bei den ersten Untersuchungen im Februar ausgehändigt worden war, aber na und? Er wollte schließlich vor dem Operationstag nicht noch den Verstand verlieren; wenn alles gut ginge, könnte danach vielleicht von neuen Gewohnheiten die Rede sein. Von Gesundheit und allem, was dazugehörte.
Hat alles seine Zeit.
Er räumte den Tisch ab. Ging in die Küche und stellte das Geschirr ins Spülbecken. Ging dann ins Wohnzimmer und suchte ziellos seine CDs und Kassetten durch.
Elf Zentimeter meines Körpers, dachte er und dann fielen ihm plötzlich die Fotos vom Vormittag ein.
Der kopflose Mann draußen in Behren.
Kopf-, hand- und fußlos.
Es könnte schlimmer sein, dachte er.
Zwischen fünfzig und sechzig, hatte Meusse behauptet.
Das passte. Vielleicht waren sie ja im selben Jahr geboren? Siebenundfünfzig. Warum nicht?
Es könnte sehr viel schlimmer sein.
Zehn Minuten später saß er im Auto, und aus den Lautsprechern dröhnte ein Monteverdichor. Es würde wohl erst in anderthalb Stunden dunkel werden. Er hatte Zeit genug.
Wollte sich einfach nur umschauen. Mehr nicht. Hatte ja doch nichts Besonderes vor.
Hat alles seine Zeit, wie gesagt.
5
»Wie sieht’s denn mit der Liebe aus?«, fragte Münster, als er neben Rooth in dessen altem Citroën saß. Sie brauchten einfach auch ein Gesprächsthema, das nichts mit dem Dienst zu tun hatte.
»Gar nichts zu holen«, sagte Rooth. Manchmal wünschte
er sich fast, dass eine Spritze erfunden würde, mit der sich die Triebe ein für allemal abschaffen ließen.
»Ach was«, sagte Münster und bereute, dieses Thema angeschnitten zu haben.
»Das ist schon komisch mit den Frauen«, erklärte Rooth. »Jedenfalls mit denen, die man in meiner Lage kennen lernt. Letzte Woche hatte ich eine Dame eingeladen – eine rothaarige Donna aus Oosterbrügge, die hier in der Stadt eine Art Krankenpflegekurs machte. Wir waren im Kino und dann im Kraus, und als ich dann fragte, ob sie noch auf einen Schluck Portwein und einen Bissen Käse zu mir kommen wollte, ja, weißt du, was sie da geantwortet hat?«
»Keine Ahnung«, sagte Münster.
»Dass sie zu ihrem Freund nach Hause müsste. Der war mit hierher gekommen und wartete im Schwesternheim, behauptete sie.«
»Das gibt’s doch nicht«, sagte Münster.
»Einfach übel«, sagte Rooth. »Nein, ich glaube, ich werde
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