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Das Fenster zum Hof

Das Fenster zum Hof

Titel: Das Fenster zum Hof Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cornell Woolrich
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er mich hier an meinem dunklen Erkerfenster nicht sehen
konnte. Er blieb ein paar Minuten lang reglos dort stehen. Genau so, wie man es
von jemandem erwartet, der von Besorgnis erfüllt ist. Er stand da und starrte
gedankenverloren hinab ins Leere.
    Er macht sich Sorgen wegen ihr, sagte
ich mir, das wäre bei jedem Mann so. Das ist die natürlichste Sache der Welt.
Trotzdem ist es merkwürdig, daß er sie einfach so da drin liegen läßt, im
Dunkeln, daß er nicht zu ihr geht. Wenn er sich Sorgen
macht, warum hat er dann nicht wenigstens mal nach ihr geschaut, als er nach
Hause kam? Wieder so eine winzige Unstimmigkeit, eine Diskrepanz zwischen dem
nach außen sichtbaren Verhalten und seinem vermeintlichen inneren Zustand,
seiner Besorgnis. Und gerade in dem Augenblick, als mir dieser Gedanke durch
den Kopf ging, wiederholte sich genau das, was mir im Morgengrauen aufgefallen
war. Er hob den Kopf, voll wiedergefundener Wachsamkeit, und ich konnte
verfolgen, wie sein suchender Blick wieder ganz langsam die Runde über das
Panorama von Hinterhoffenstern hinweg machte. Zwar fiel das Licht diesmal von
hinten auf ihn, doch es war hell genug, um die winzige, aber kontinuierliche
Richtungsänderung seines Kopfes erkennen zu lassen. Ich war darauf bedacht,
mich nicht zu bewegen, bis der Blick von drüben an meinem Fenster
vorbeigeglitten war. Bewegung zieht Blicke auf sich.
    Warum interessiert er sich so für die
Fenster der anderen Leute, fragte ich mich nüchtern. Doch natürlich drängte
sich mir fast im gleichen Augenblick eine weitere Frage auf, die wirksam
verhinderte, daß ich allzulange bei diesem Gedanken verweilte: Und was machst
du? Faß dich doch mal an die eigene Nase!
    Ein wichtiger Unterschied entging mir.
Ich machte mir um nichts Sorgen. Er sich vermutlich schon.
    Wieder wurden die Rollos herabgezogen.
Das Licht hinter dem undurchsichtigen Beige blieb an. Das Zimmer hinter dem
Fenster, an dem das Rollo die ganze Zeit unten gewesen war, blieb jedoch
dunkel.
    Die Zeit verging. Schwer zu sagen,
wieviel — eine Viertelstunde, zwanzig Minuten. In einem der Hinterhöfe zirpte
eine Grille. Sam kam herein, wollte wissen, ob er noch irgend etwas für mich
tun könnte, ehe er für heute nach Hause ginge. Ich sagte ihm, ich brauchte
nichts mehr — alles in Ordnung, geh nur. Er stand eine ganze Weile mit
gesenktem Kopf da. Dann sah ich, wie er ihn kaum merklich schüttelte, als ob
ihm irgend etwas nicht gefalle. »Was ist los ?« fragte
ich.
    »Wissen Sie, was das bedeutet? Meine
gute alte Mammy hat mir’s erzählt, und die hat mich nie angelogen, solange sie
lebte. Und es hat bis jetzt immer hingehauen .«
    »Was, die Grille?«
    »Immer, wenn man eins von den Dingern
hört, ist das ein Zeichen, daß der Tod ganz in der Nähe ist .«
    Ich winkte ihm mit dem Handrücken zu,
bedeutete ihm, er solle gehen. »Na, hier drin ist er jedenfalls nicht, also
mach dir keine Sorgen .«
    Beim Hinausgehen brummte er störrisch:
»Aber ganz in der Nähe. Nicht weit weg. Ganz bestimmt .«
    Es war eine schwüle Nacht, viel
drückender als die vorhergegangene. Obwohl ich am offenen Fenster saß, spürte
ich kaum einen Luftzug. Ich fragte mich, wie er — der Unbekannte dort drüben — es
nur hinter den herabgezogenen Rollos aushielt.
    Dann plötzlich, gerade als meine wilden
Spekulationen zu dieser ganzen Sache sich zu verdichten, in so etwas wie einen
Verdacht auszukristallisieren begannen, glitten die Rollos wieder hoch, und
das, was sich in meinem Kopf zu bilden begonnen hatte, huschte davon, formlos
wie eh und je, ohne auch nur eine Chance gehabt zu haben, Gestalt anzunehmen.
    Er war im Wohnzimmer, hinter den
mittleren Fenstern. Er hatte Jackett und Hemd ausgezogen, trug nur noch ein
Unterhemd. Ich sah seine nackten Arme. Er hatte sie wohl einfach nicht mehr
ertragen können, diese Hitze.
    Ich konnte zunächst nicht erkennen, was
er dort drüben machte. Er bewegte sich vorwiegend in der Vertikalen, auf und
ab, nicht im Zimmer hin und her. Er blieb an einer Stelle und tauchte in unregelmäßigen
Abständen immer wieder nach unten weg, um, wenn er sich aufrichtete, wieder in
Sicht zu kommen. Fast wie eine Gymnastikübung, nur daß das Wegtauchen und das
Wiederhochkommen dazu nicht regelmäßig genug waren. Das eine Mal blieb er
ziemlich lange unten, das nächste Mal hingegen schnellte sein Kopf sofort
wieder hoch, oder er tauchte gleich zwei- oder dreimal weg, ganz schnell
nacheinander. Zwischen ihm und dem Fenster sah ich eine Art

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