Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Fenster zum Hof

Das Fenster zum Hof

Titel: Das Fenster zum Hof Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cornell Woolrich
Vom Netzwerk:
Rücksichtnahme.
    Ungefähr zehn Minuten später flackerte
ein zweites Streichholz auf, ebenfalls hinter diesem Wohnzimmerfenster. Er
konnte nicht schlafen.
    Die Nacht lastete gleichermaßen auf uns
beiden, dem Spanner am Erkerfenster und dem Kettenraucher in der Wohnung im
dritten Stock, lieferte mir keine Antwort auf meine Fragen. Das einzige
Geräusch war das Zirpen der unermüdlichen Grille.
    Beim ersten morgendlichen Sonnenstrahl
war ich wieder am Fenster. Nicht seinetwegen. Ich hatte mich auf meiner
Matratze gefühlt wie auf heißen Kohlen. Als Sam hereinkam, um alles für mich
herzurichten, und mich dort sah, meinte er nur: »Sie werden sich noch zugrunde
richten, Mr. Jeff .«
    Zunächst kam eine ganze Weile kein
Lebenszeichen von drüben. Dann sah ich, wie am Wohnzimmerfenster sein Kopf von
unten hochkam. Also hatte ich recht gehabt: Er hatte die Nacht dort drin
verbracht, auf einem Sofa oder in einem Sessel. Jetzt würde er natürlich zu ihr
hineinschauen, um festzustellen, wie es ihr ging, ob sie sich vielleicht besser
fühlte. Das war ganz einfach seine menschliche Pflicht. Wenn ich mich nicht
täuschte, war er seit der vorletzten Nacht nicht mehr bei ihr gewesen.
    Er tat es nicht. Er zog sich an und
ging in die entgegengesetzte Richtung, in die Küche, schlang dort, im Stehen
und mit beiden Händen, etwas Eßbares hinunter. Dann wandte er sich plötzlich um
und ging hinüber in Richtung auf die Wohnungstür, als hätte er von dort ein
Klopfen oder Klingeln gehört.
    Und tatsächlich, gleich darauf kam er,
gefolgt von zwei Männern in Lederschürzen, zurück. Angestellte einer
Speditionsfirma. Ich sah, wie er daneben stand, als sie sich mit dem schwarzen
Quader abmühten, ihn zwischen sich nahmen und in die Richtung trugen, aus der
sie eben gekommen waren. Er stand nicht einfach nur daneben. Er wich ihnen praktisch
nicht von der Seite, befand sich bald links, bald rechts von ihnen, achtete
sorgsam darauf, daß sie nichts verkehrt machten.
    Dann kam er allein zurück. Und ich sah,
wie er sich mit dem Arm über die Stirn fuhr, als wäre ihm fürchterlich heiß,
als hätte er sich angestrengt und nicht die beiden anderen.
    Er schickte also ihren Koffer voraus an
den Ort, wohin sie fahren würde. Das war alles.
    Wieder streckte er den Arm nach oben,
zur Wand hin aus und holte etwas herunter. Er genehmigte sich noch ein Gläschen.
Zwei. Drei. Ich sagte mir, ein wenig verblüfft: Dabei hat er jetzt noch nicht
mal einen Koffer gepackt. Der hatte ja schon seit gestern fix und fertig
dagestanden. Also keine Schwerstarbeit diesmal. Wieso dann der Schweiß und das
Verlangen nach einer Stärkung?
    Und jetzt passierte, worauf ich so
lange gewartet hatte, er ging endlich zu ihr hinein. Ich sah, wie er das
Wohnzimmer durchquerte und weiterging ins Schlafzimmer. Das Rollo, das die
ganze Zeit unten gewesen war, schnellte hoch. Dann drehte er den Kopf herum und
schaute hinter sich ins Zimmer. Auf eine ganz bestimmte Art, die auch aus
meiner Entfernung eindeutig zu erkennen war. Nicht in eine bestimmte Richtung,
wie wenn man jemanden anschaut. Sondern von links nach rechts, von oben nach
unten, in alle Ecken, als wäre das Zimmer, das er betrachtete — leer.
    Er trat etwas zurück, beugte sich
leicht nach vorne und warf mit einem kräftigen Ruck seiner Arme eine Matratze
nebst Bettzeug über das Fußende eines Betts, wo sie liegenblieb, ins Leere
hinabgebogen. Eine zweite Matratze folgte gleich darauf.
    Sie war nicht dort drin.
    Wieder so eine geistige Spätzündung.
Zwei Tage lang war mir eine Art gestaltloses Unbehagen, ein schemenhafter
Verdacht durch den Kopf gegeistert, war durch meine Gedanken geglitten wie ein
Insekt, das nach einem Landeplatz sucht. Mehr als einmal hatte, als es sich
gerade niederlassen wollte, irgendeine Kleinigkeit, die den Verdacht zu
entkräften schien, wie das Hochschnellen der Rollos, nachdem sie so unnatürlich
lange herabgezogen gewesen waren, dieses Insekt in mir ziellos weiterfliegen
lassen, hatte es davon abgehalten, wenigstens so lange stillzuhalten, daß ich
es erkennen konnte. Der potentielle Landeplatz war die ganze Zeit über
dagewesen, bereit, es aufzunehmen. Jetzt, innerhalb des Bruchteils einer
Sekunde, nachdem er die Matratzen über das Fußende des Betts geworfen hatte,
landete es. Und der Landeplatz, der Berührungspunkt, verdichtete sich — oder
implodierte, wie immer man es nennen will — zu der Gewißheit, daß ein Mord geschehen
war.
    Mit anderen Worten, mein

Weitere Kostenlose Bücher