Das Fenster zum Hof
einen Finderlohn, wenn er sie dem Besitzer zurückbringt.
Eine Verhaltensweise, die, angesichts der prekären Situation des Finders,
reichlich dämlich und unglaubwürdig wirkt. Doch Woolrich gelingt es, im Verlauf
der Erzählung Scotts rührende Ehrlichkeit psychologisch plausibel zu machen.
Von der schönen Devise des
(Film-)Gentleman-Gangsters Spencer Tracy hat Scott gewiß nichts gehört: »Ich
bin zu nervös zum Stehlen, zu faul zum Arbeiten, aber clever genug, andere
meine Pläne ausführen zu lassen .« Das war in den
Gangsterfilmen so, mit denen man die Aufstiegsideologie und den rugged
individualism heimlich propagierte. Woolrich dagegen fühlte sich von der
»verlorenen Generation« angezogen, er war ein Kind der Jazz-Ära und der
Depression. Seine Helden sind die Opfer dieser rabiaten Ellenbogentypen.
Ästhetisch und moralisch fühlte sich der Autor jenen Sensibilisten zugehörig,
die den schleichenden »Zerfall der Werte«, die Elegie aufs Bürgertum und das
Verhalten des »kleinen Mannes« beschrieben.
Insgesamt (und keineswegs nur in
Europa) bewegte sich die Literatur zwischen den beiden Kriegen in einem
»Schwebezustand« zwischen neuer Sachlichkeit und zwielichtigen Mythen,
expressiver Hoffnung, nihilistischer Verzweiflung und suggestiver Naivität. Die
Mitleidsphilosophie der Expressionisten ist selbst in Woolrichs Thrillern zu
spüren. Noch stärker aber machte sie sich in seiner Vita bemerkbar — als wäre
sie selbst ein düsterer Woolrich-Roman.
In seiner unvollendeten und bis heute
nicht veröffentlichten Autobiographie, der er den Titel »Blues for a Lifetime«
gab, schreibt er: »Ich war ein echtes Kind der zwanziger Jahre, und ich trug
sie mit mir durch mein ganzes späteres Leben. Ich ließ die Zwanziger vierzig
Jahre lang dauern; das war die einzig mögliche Antwort: Nach mir die Sintflut .«
Cornell George Hopley-Woolrich kam als
Sohn eines Bauingenieurs und einer Dame aus prominenter New Yorker Familie am
4. Dezember 1903 in New York zur Welt. Weil bereits in seiner frühen Kindheit
die Ehe seiner Eltern zu Bruch ging, verbrachte das Kind die ersten Jahre bei
seinem Vater in Mexiko. »Mit acht Jahren«, schreibt der einzige profunde Kenner
Woolrichs, sein Biograph Francis M. Nevinsjr., »sah er in Mexico City Puccinis ›Madame
Butterfly‹, und dieses Erlebnis ließ ihn zum erstenmal erahnen, was Stimmung
und Dramatik waren, und spüren, was eine Tragödie ausmachte.«
Als Halbwüchsiger kehrte Cornell, ein
dünner, bleicher, introvertierter Jüngling, zu seiner Mutter nach Manhattan
zurück und immatrikulierte sich am Columbia College. Er hatte sich zwischen
seinen beiden Berufswünschen — Tänzer oder Journalist — für den zweiten
entschieden, belegte Philosophie, Literatur und Journalismus und geriet bald
voll unter den Einfluß von F. Scott Fitzgerald, dessen Romane nicht nur von
ihm, sondern von einer ganzen Generation verschlungen wurden.
Die Leere und Ode, die hinter allen
Orgien und leidenschaftlichen Vergnügungen ä la »Gatsby« standen, waren ganz
nach Woolrichs Gusto. Er fühlte sich bestätigt und begann heimlich, im Haus des
Großvaters, seinen ersten Roman, »Cover Charge« (1926), zu schreiben, die
Affäre eines Gigolos mit einer erheblich älteren Dame. Der Roman wurde
veröffentlicht, und schon ein Jahr darauf folgte der zweite: »Children of the
Ritz«. Und der brachte ihm nicht nur einen Preis von 10 000 Dollar ein, sondern
vor allem einen Kontrakt mit den First National Pictures.
Weil Hollywood ihn daraufhin bat, bei
der Adaption zum Drehbuch mitzuhelfen, reiste er an die Westküste und blieb als
Filmautor. »Children of the Ritz«, von John Francis Dillon inszeniert (1929),
war der erste einer ganzen Reihe von Woolrich-Verfilmungen. Die drei, vier
Jahre, die sich Cornell in der Filmmetropole aufhielt, sind bis heute noch nicht
so recht erhellt worden. Jedenfalls soll er an mehreren Drehbüchern
mitgearbeitet haben, ohne daß sein Name in den Credits aufgeführt wurde;
außerdem schrieb er einige Artikel für Zeitschriften, zwei weitere Romane,
begann sich das Pseudonym William Irish zuzulegen — und heiratete Gloria
Blackton, die Tochter des Filmpioniers und Begründers der Vitagraph Studios J.
Stuart Blackton.
Die Ehe war nur von kurzer Dauer, weil —
so Biograph Nevins in Christian Bauers TV-Porträt »Nacht ohne Morgen. Die
dunkle Welt des Cornell Woolrich« — Cornells Frau unter dem Bett einen Koffer
mit Matrosenkleidern und ein Tagebuch
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