Das Fest Der Fliegen
Junge tat das nicht. Auf den Wiesen um Sligo lag er auf dem Rücken und träumte sich mit den Wolken nach Westen. Er dachte an seine Mutter und fragte zum tausendsten Mal in den Himmel: »Warum hast du nicht geholfen, Maria?« Und sie, die so lange geschwiegen hatte, antwortete endlich. Er hörte in sich ihre Stimme, die der seiner Mutter ähnlich war. Maria erzählte ihm von der Sünde der Welt, gegen die sie überall kämpfen müsse. Darum war sie in jenem Augenblick nicht bei seinen Eltern, als der Zug kam. Leicester verstand, dass sie nicht gleichzeitig an allen Orten sein konnte. Er fing an, die Sünder zu hassen, die Maria daran gehindert hatten, seinen Vater und seine Mutter zu beschützen. Er hörte, wie die himmlische Jungfrau ihm auftrug: »Tu, was ich dir sage, Leicester, und es wird keine Sünde mehr in der Welt sein.« Von nun an war er Marias Sohn und Soldat. Er sah in den Himmel über Sligo und schwor, er werde ihr helfen beim Kampf gegen die Sünder. Noch wusste er nicht, wie; aber der Schwur machte ihn froh. Als er fünfzehn war, riss er aus.
Fünf Tage nach der Beisetzung von Klara Matt veröffentlichten die ZN ein Foto des Toten aus der Mahr. Seine Identität war ungeklärt. Da er nicht bekleidet war, gab es keine Erkennungszeichen außer den Fingerabdrücken, die man noch nehmen konnte, einem halb abgeschlagenen Zahn im Unterkiefer und einer Tätowierung direkt über dem Herzen: ein kleiner Blumenstrauß. Die Fingerabdrücke fanden sich in keiner Datei. Klaus Leybundgut, der in Zungen gelegentlich als Rechtsmediziner hinzugezogen wurde, nach der Pensionierung Swobodas allerdings seine Arztpraxis geschlossen hatte, war auf Bitten seines alten Klassenkameraden noch einmal in den Keller der städtischen Klinik gekommen, um sich mit ihm zusammen den Leichnam anzusehen. »Ich kann dir nicht mehr sagen, als du selbst siehst. Einszweiundsiebzig, dunkles lockiges Haar, kräftiger Körperbau, etwas älter als fünfundzwanzig, aber nicht viel. Keine Spuren von Gewalteinwirkung. Für mich ganz klar ein Suizid. Nur, wo sind seine Kleider? Irgendwo muss er sie gelassen haben, bevor er ins Wasser ging.« »Oder er hat sie vorher in den Fluss geworfen und gewartet, bis sie weg waren.« »Jedenfalls wollte er nicht identifiziert werden«, sagte Leybundgut. »Offenbar. Die Tätowierung? Schon mal gesehen?« »Nein. Das sind Maiglöckchen, oder? Die sind giftig, das ist alles, was mir dazu einfällt. Warum müssen eigentlich wir beiden alten Kerle uns immer noch mit diesen Scheußlichkeiten rumplagen? Du bist pensioniert, ich bin im Ruhestand, wir könnten zusammen am Flussufer sitzen und einen guten Pauillac trinken. Was hältst du davon? Ich hätte einen 1983er Chateau Lafite-Rothschild. Ich mache ihn auf und du kommst in zwei Stunden?« »Daraus wird nichts. Ich will malen. Die Gesichter finden. Vielleicht male ich den hier, bevor ich ihn auch vergesse.« Leybundgut schloss seine Arzttasche und sah seinen Freund
skeptisch an. »Wie du meinst. Wir haben uns lange nicht
gesehen. In unserem Alter sind Pausen riskant.«
»Ich war viel unterwegs.«
Der Arzt ließ nicht locker. »Muss ich mir Sorgen machen?«
»Wieso?«
»Typisch Alex, immer eine Gegenfrage, statt zu antworten.
Natürlich Sorgen um dich!«
Swoboda umarmte ihn und klopft ihm leicht auf den
Rücken. Leybundgut hatte in den letzten Monaten Gewicht verloren und kam ihm zerbrechlich vor.
»Nein. Um mich muss sich niemand Sorgen machen. Das
mach ich schon selbst.«
In der Tür drehte sich der Arzt noch einmal um und murmelte: »Jetzt fällt es mir ein. Diese Maiglöckchen. Das sind
Marienblumen. Ich glaube, sie symbolisieren die Jungfrau
Maria. Irgend so was. Aber das hilft dir auch nicht.«
»Doch. Ich habe nämlich in letzter Zeit immer mehr mit
religiösen Zeichen zu tun und weiß nicht, warum.«
»Das liegt am Alter. Man richtet sich aufs Jenseits ein. Aber
ich kann dir sagen: Da ist nichts.«
Leybundgut schloss die Tür hinter sich und ließ Alexander Swoboda im kalten, forensischen Kellerraum mit der
Leiche allein.
Er blickte in das junge Gesicht des Selbstmörders mit dem
Maiglöckchenstrauß über dem Herzen und ihm war zum
Heulen zumute.
VI Der Sohn
Domingo duckte sich vor dem Mondlicht in den Mauerschatten. Sein Herz klopfte so laut, dass er fürchtete, die ganze Stadt werde davon geweckt. Er zog eine Flasche Wermut aus der Tasche seines Anoraks, öffnete sie und trank. Nur wenn er trank, wurde es still in seinem Kopf. All die Monate, seit er
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