Das Fest der Pferde
Reihe großer Turniere starten. Ihr selbst ging es nicht viel anders. Wo blieb da Zeit für Ferienvergnügen, Ausflüge oder Erholung? Eine Reise, eine Fahrt in die Stadt? Ein Regentag, an dem man einfach bis mittags im Bett blieb und schmökerte? Ihr Leben schien vorprogrammiert auf Jahre hinaus, dachte Bille. Gab es keinen Schulunterricht, war da doppelt soviel Arbeit mit den Pferden. Von dem Leben daneben, dem wirklichen, dem normalen Leben, so schien es ihr jetzt, bekam sie überhaupt nichts mit. Und Simon? Wann hatten sie denn überhaupt Zeit füreinander? Zeit für ein Gespräch, Zeit für Nähe, für Zärtlichkeit?
„Beim Pferdewechsel!“ sagte Bille laut und mußte über sich lachen. Aber das Lachen klang gequält.
Nein, irgend etwas stimmte nicht mit ihrem Leben. Mutsch hatte schon recht, wenn sie immer wieder mahnte, Bille solle nicht übertreiben und nicht alles andere über dem Reiten vernachlässigen.
„Weißt du was, mein Schöner? Wir faulenzen heute!“ sagte sie zu San Pietro und zog den Sattelgurt fest. „Wir machen einen Ausflug ins Gelände. Ich sage Daddy Bescheid, falls Simon anruft.“
Als Bille am Bürofenster Hans Tiedjens vorüberritt, telefonierte er gerade. Mit Zeichensprache machte sie ihm verständlich, daß sie ausreiten würde. Er winkte ihr zerstreut zu und lauschte konzentriert und mit leichter Beunruhigung seinem Gesprächspartner. Bille bog in den Parkweg ein, ritt im Schritt am Schulstall vorbei, winkte Johnny und Achmed, dem türkischen Stallpfleger, zu und ließ San Pietro auf dem Weg, der zum Wald hinüberführte, antraben.
Im Wald empfing sie angenehme Kühle, ein leichter Wind bewegte die Bäume, irgendwo über ihr krächzte ein Eichelhäher. Es duftete würzig nach Fichtennadeln und Kräutern, Insekten schaukelten auf den langen Gräsern am Wegrand, die ersten Himbeeren leuchteten rot im Gesträuch.
San Pietro fiel bald in einen ruhigen Schritt, und Bille ließ ihn laufen, wie ihm zumute war. Seine Ohren spielten aufmerksam, er schaute vergnügt von einer Seite zur anderen, schnaubte übermütig und genoß diesen Spaziergang sichtlich. Bille wurde auf einmal von einem so intensiven Gefühl prickelnder Lebensfreude durchdrungen, daß sie hätte laut aufjauchzen mögen. Sie fühlte sich so sehr eins mit dem sanften Sommerwind, dem Ruf der Vögel, der hier und da die Stille durchdrang, mit Bäumen und Gräsern, mit dem vibrierenden Waldboden unter den Hufen ihres Pferdes, daß sie glaubte, der Mittelpunkt der Welt zu sein und die gesamte Schöpfung in sich zu tragen. Es war ein so überwältigendes Gefühl der Wachheit, als hätten sich ihre Sinne, ihre Kräfte, ihr Bewußtsein plötzlich verdoppelt, und sie wäre fähig, alle Geschöpfe zu lieben, zu verstehen und zu beschützen.
Jetzt war es ihr unbegreiflich, daß sie vorhin im Stall ihr Leben nur in den düstersten Farben gesehen, es nur als eine Last empfunden hatte. Gab es denn wirklich jemanden, mit dem sie hätte tauschen mögen? Gab es ein Leben, das sie sich mehr wünschte, als das, was sie führte? Sie war untrennbar mit diesem allen verbunden - den Pferden, dem Hof, den Feldern, Koppeln und dem Wald, und vor allem mit den Menschen. Sie hatte Teil an ihnen allen, an ihrem Leben. Bettina und Tom, die jetzt am Strand entlang galoppierten. Mutsch und Onkel Paul im Sparmarkt drüben in Leesten . Daddy, der jetzt sicher mit Jamaika in der Halle war. Daniel und Joy, Florian und Nico. Petersen, Johnny, Hubert und Achmed, deren Leben nur aus Dienst an den Pferden bestand. Und Simon. Ganz gleich, wo er war, ob auf einem der großen Turniere, ob in einer Kaserne, in der Halle oder auf dem Reitplatz, ob nah bei ihr oder weit fort - sie war ein Teil von ihm und er von ihr, nichts konnte daran etwas ändern.
Bille wendete den Fuchswallach und trieb ihn an. Im Jagdgalopp flogen sie auf dem federnden Waldboden dahin. San Pietros Mähne flatterte im Wind wie eine Reihe züngelnder Flämmchen, die vor ihren Augen tanzten. Wenn jemand mich fragen würde, was ist Glück, ich würde ihm sagen: das hier! dachte Bille.
Sie ritt nicht direkt zum Stall zurück, sondern machte einen Umweg über den Außenreitplatz. Wie sie vermutet hatte, ritt Daddy Jamaika. Als er sie sah, kam er sofort zu ihr hinüber.
„Erschrick bitte nicht. Mach dich auf eine Überraschung gefaßt...“
Hans Tiedjen zeigte zu der Bank hinüber, die auf der anderen Seite des Platzes stand. Dort lagerte eine Gestalt, den Oberkörper an den
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