Das Feuer von Innen
ja nicht einmal, wie es bei uns Menschen vonstatten geht - aber die Seher sehen, daß alle neugeborenen Geschöpfe angehalten werden, zu tun was ihre Gattung tut. Es ist ganz ähnlich wie bei Menschenkindern: die Seher sehen, wie ihr Montagepunkt sich hin und her verschiebt, und dann sehen sie, wie der Punkt aller Kinder durch die Anwesenheit von Erwachsenen auf eine bestimmte Stelle festgelegt wird. So geschieht es auch bei allen anderen Organismen.« Don Juan besann sich eine Weile, und dann sagte er, daß es beim Menschen allerdings eine besondere Bewandtnis mit dem Montagepunkt habe. Er wies auf einen Baum vor dem Fenster. »Wenn wir als ernsthafte Erwachsene einen Baum betrachten«, sagte er, »richtet sich unser Montagepunkt an einer unendlichen Zahl von Emanationen aus, und es geschieht ein Wunder. Unser Montagepunkt erlaubt uns, ein Bündel von Emanationen wahrzunehmen, das wir als Baum bezeichnen.« Der Montagepunkt bewirke nicht nur, wie er ausführte, die für die Wahrnehmung notwendige Ausrichtung, sondern er tilge auch die Ausrichtung gewisser anderer Emanationen, um eine größere Schärfe der Wahrnehmung zu erreichen. Dies sei ein trickreicher Vorgang des Herausgreifens - ein Mechanismus, der nur den Menschen auszeichne.
Die neuen Seher hätten auch beobachtet, sagte er, daß nur der Mensch in der Lage sei, die Emanationen-Bündel noch weiter zu bündeln. Für diesen Vorgang verwandte er das spanische Wort desnater, das eigentlich das Abschöpfen des feinen Rahms aus dem Milchbottich, nach dem Abkühlen der Milch, bezeichnet. Auf die Wahrnehmung übertragen, meinte er, schöpfe der Montagepunkt des Menschen einen Teil der bereits zur Ausrichtung bereiten Emanationen ab und schaffe daraus ein feineres Gebilde.
»Beim Menschen«, fuhr Don Juan fort, »ist dieses Abgeschöpfte etwas viel Realeres als das, was andere Geschöpfe wahrnehmen. Dies aber ist unser Fallstrick. Denn es erscheint uns so real, daß wir vergessen, daß wir selbst es geschaffen haben, indem wir unserem Montagepunkt befahlen, dort aufzutauchen, wo er dann auftauchte. Wir vergessen, daß es nur deshalb real erscheint, weil unser Befehl uns vorschreibt, es als real wahrzunehmen. Wir haben die Macht, die oberste Lage der Ausrichtungen abzuschöpfen, aber wir haben nicht die Macht, uns vor unseren eigenen Befehlen zu schützen. Dies muß erst gelernt werden. Unserem Abschöpfen freie Hand zu lassen, wie wir es tun, ist ein Irrtum, für den wir so teuer bezahlen, wie die alten Seher für die ihren.«
9. Die Verschiebung nach unten
Don Juan und Genaro unternahmen ihre alljährliche Reise in den Norden Mexikos, in die Wüste von Sonora, um dort Heilpflanzen zu sammeln. Einer der Seher aus dem Nagualzug, Vicente Medrano, der Kräuterkundige unter ihnen, stellte aus diesen Pflanzen Arzneien her.
Ich hatte Don Juan und Genaro in Sonora getroffen, der letzten Station ihrer Reise, gerade rechtzeitig, um mit ihnen nach Hause, in den Süden zu fahren.
Einen Tag bevor wir die Fahrt antraten, setzte Don Juan plötzlich seine Erklärung über die Beherrschung des Bewußtseins fort. Wir rasteten im Schatten hoher Büsche, zwischen den Ausläufern der Berge. Es war später Nachmittag, beinah schon dunkel. Jeder von uns trug einen großen Jutesack voll Kräuter. Kaum hatten wir sie abgestellt, legte sich Genaro auf den Boden und schlief ein, seine zusammengerollte Jacke als Kopfkissen untergeschoben. Don Juan sprach mit leiser Stimme auf mich ein, als wolle er Genaro nicht wecken. Er habe mir nun, sagte er, die meisten der Wahrheiten über das Bewußtsein erklärt, und es bliebe uns nur noch eine Wahrheit zu besprechen. Diese letzte Wahrheit, versicherte er, sei eine der höchsten Entdeckungen der alten Seher gewesen, auch wenn sie selbst dies nicht wußten. Ihr enormer Wert sei erst später von den neuen Sehern entdeckt worden. »Ich habe dir doch erklärt, daß der Mensch einen Montagepunkt hat«, fuhr er fort, »und daß dieser Punkt die Emanationen zur Wahrnehmung ausrichtet. Wir sprachen auch darüber, daß dieser Punkt sich aus seiner festen Position wegbewegen kann. Nun, und die letzte Wahrheit lautet, daß dieser Punkt, sobald er sich über eine gewisse Grenze hinausbewegt, Welten zusammensetzen kann, die sich völlig von der uns bekannten Welt unterscheiden.«
Immer noch flüsternd, erzählte er mir, daß gewisse geografische Regionen nicht nur geeignet seien, diese gefährliche Bewegung des Montagepunktes zu fördern, sondern auch eine
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