Das Flüstern der Schatten
Stäbchen, ließ es vor ihrem geöffneten Mund kreisen und dann darin verschwinden. Er gab ihr etwas vom Huhn in Zitronensoße, der kalten Ente und dem Tofu mit sieben Gewürzen. Sie kannte Paul als leidenschaftlichen Koch, aber so gut hatte sein Essen noch nie geschmeckt.
»Das ist ja unglaublich«, sagte sie überrascht. »Wie lange hast du denn dafür in der Küche gestanden?«
Er freute sich sichtlich über ihr Lob, goss noch etwas Champagner in ihr Glas und stieß mit ihr an.
»Worauf?«, fragte Christine neugierig.
»Auf dich.«
»Warum auf mich?«
»Weil ich dir danken möchte.«
»Mir? Wofür?«
»Für deine Liebe. Als wäre Vertrauen etwas für Dumme. Als hätten wir eine Wahl. Als du mir diese Sätze das erste Mal sagtest, dachte ich: Du spinnst, natürlich haben wir eine Wahl.«
»Und jetzt?«
Paul trank einen Schluck von seinem Champagner, neigte den Kopf zur Seite und schaute sie nachdenklich an. »Jetzt weiß ich, dass du Recht hast. Als ich mit Victor Tang zu Abend aß, musste ich plötzlich an deinen Satz denken, bekam eine unendliche Sehnsucht nach dir und zitierte dich.«
»Wusste er, wovon du sprachst?«
»Sehr genau. Er glaubt allerdings, das Gegenteil ist richtig: Wir haben keine Wahl als zu misstrauen.«
Christine dachte an ihren Bruder und ihren Vater, sie dachte an die Geschichte, die ihr Paul gestern am Telefon von Tangs Vater erzählt hatte. »Sehr chinesisch.«
»So was Ähnliches hat er auch behauptet.«
»Was?«
»Er würde keinem Chinesen seiner Generation trauen.«
»Ich auch nicht. In der Liebe haben wir keine Wahl als zu vertrauen. Sonst schon.«
Christine hörte schweigend seinen Erzählungen aus den vergangenen zwei Tagen zu und versuchte sich Tang und seine Welt vorzustellen, das Haus, die goldenen Golfschläger, die Butler, Anyi, aber es gelang ihr nicht. Es war zu fremd. Als berichtete er von einem Ausflug ins Reich der Finsternis und nicht von einem Ort, den sie in einer Stunde mit dem Zug erreichen konnte. Was Paul beschrieb, bestätigte ihre schlimmsten Ahnungen, und gleichzeitig ließ es sie auf eine seltsame Art gleichgültig. Es berührte sie nur insofern, dass sie noch im Nachhinein Angst um Paul hatte. Tang war ihr egal, die Owens bedeuteten ihr nichts. Erst als das Gespräch auf David kam und Paul langsam und zunehmend zögerlich vom Kloster und dem alten Mönch erzählte, wurde sie unruhig. Sie sah ihm an, wie schwer es ihm fiel, die Geschichte zu Ende zu bringen.
Danach war es lange still im Zauberwald.
»Warum hat er nie etwas gesagt?«, sagte Paul halblaut, legte den Kopf in den Nacken und blickte in den Nachthimmel. Als hätten die Sterne eine Antwort für ihn.
Christine wunderte sich über seine Frage, war es für ihn wirklich so schwer zu verstehen, dass David dieses Geheimnis nicht teilen konnte? »Paul, dein Freund hat sich zu sehr geschämt und nicht den richtigen Zeitpunkt gefunden. Ich finde, wenn man den verpasst, wird jede Minute des Schweigens zu einer weiteren kleinen Lüge, und die addieren sich so schnell, dass es irgendwann einfach unmöglich ist, darüber zu reden. Kennst du dieses Gefühl nicht? Bist du sicher, du an seiner Stelle hättest etwas gesagt?«
Er starrte noch immer in den Sternenhimmel. »Nein«, antwortete er, ohne sie anzublicken. »Konfuzius behauptet, verlorenes Vertrauen kommt nicht zurück. Glaubst du das auch?«
»Hör auf«, sagte sie und verdrehte die Augen. »Selbst chinesische Philosophen irren manchmal.«
»Hm. Ich werde darüber nachdenken.«
»Paul, nicht der Verstand verzeiht, sondern das Herz.«
Er lächelte. »Aber auch das Herz braucht Zeit.«
»Besonders das Herz.«
Er nickte und verfiel wieder in ein langes Schweigen.
»Was geht dir durch den Kopf«, wollte Christine wissen.
»Elizabeth Owen. Sie war heute Nachmittag hier und wollte sich bedanken. Es ist sonderbar, aber als sie ging, hatte ich ein schlechtes Gewissen.«
»Nach allem, was du für sie getan hast?«
»Ja.«
»Warum das denn?«
»Ich habe das Gefühl, ich hätte ihr sagen müssen, dass es ihr Mann war, der Victor Tang von Michaels Verhandlungen erzählt hat.«
»Warum?«
»Sie glaubt, dass es Anyi war.«
»Das würde ich an ihrer Stelle auch.«
»Aber ich kenne die Wahrheit«, erwiderte Paul.
»Und du glaubst, sie nicht?«
»Nein, sie nicht.«
»Paul, Elizabeth Owen ist doch nicht blöd. Ich bin überzeugt, dass sie ahnt, wer es war, aber es nicht wissen möchte. Wer etwas nicht sehen will, dem kannst du es nicht
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