Das Flüstern der Schatten
Was immer sie in Milwaukee erwartete, sie wusste dort zumindest, mit wem sie es zu tun hatte. Wem sie vertrauen konnte und wem nicht.
XXXII
Er hatte keinen der Männer bemerkt. Nicht die vier am Nebentisch, nicht die beiden an der Tür, nicht die Gruppe, die an der großen runden Tafel auf dem Weg zur Toilette ungewöhnlich leise vor sich hin aß. Victor Tang saß im »Golden Dragon« und war zu vertieft in die Gespräche mit den neuen Stahllieferanten, als dass er Augen oder Ohren für seine Umgebung gehabt hätte. Erst als er bezahlte und aufstand und sah, dass sich gleichzeitig mit ihm im ganzen Restaurant über ein Dutzend junger Männer erhoben, beschlich ihn ein ungutes Gefühl. Als Nächstes fiel ihm auf, dass der Manager des Lokals, der sonst beim Gehen immer devot um ihn herumschwänzelte und sich für das üppige Trinkgeld bedankte, nirgendwo zu sehen war. Auch die Kellner wahrten ihre Distanz. Sie schauten weg oder lächelten verkrampft und wagten nicht, ihm seine Jacke zu bringen.
Auf dem Weg zur Garderobe stellten sich ihm zwei der Männer in den Weg und sagten, dass er ihnen nach draußen zu folgen habe. Wer immer dahintersteckte, dachte Tang, musste sich verdammt sicher fühlen, dass er es wagte, diese Festnahme, oder um was immer es sich handelte, in aller Öffentlichkeit zu inszenieren.
Vor der Tür wartete eine Wagenkolonne, ein halbes Dutzend Limousinen, die bald in hohem Tempo über die Autobahn jagten und ihn in eine Villa am Stadtrand brachten. Wenn er sich nicht täuschte, war sie ein Quartier der Staatssicherheit gewesen, bevor sie in die neue Anlage in der Nähe des Flughafens gezogen war. Vermutlich stammten die Polizisten aus Peking, das war zwar kein gutes Zeichen, aber es beunruhigte ihn auch nicht allzu sehr. Er hatte offensichtlich einen Fehler begangen, nun galt es herauszufinden, wer seine Feinde waren. Sollte es dieser Wang Ming mit seiner Lotus-Metal-Klitsche sein? Wenn das Ministerium versuchte, ihn, Victor Tang, und damit auch Teile der Partei und der Stadtverwaltung Shenzhens deswegen zur Rechenschaft zu ziehen, hatte er sich schwer verkalkuliert. Das konnte Tang sich nicht vorstellen, und eigentlich war es ihm auch egal. Sobald er wusste, mit wem er es zu tun hatte, würde er seine Verbündeten um sich scharen und zum Gegenschlag ausholen.
Seine Uhr zeigte kurz nach zehn, als sie die Villa erreichten. In der oberen Etage brannte Licht, ansonsten lag sie im Dunkeln und wirkte unbewohnt. In der leeren Eingangshalle kletterten sie über einen Haufen Bauschutt, stiegen eine Treppe ohne Geländer hinauf und gingen durch leere, kaum beleuchtete Flure in einen großen Raum mit hohen Decken, in dem nicht mehr als ein rotes Sofa und ein leerer Schreibtisch mit einem Stuhl dahinter standen. An einem langen schwarzen Kabel hing eine Glühbirne, die Wände waren kahl und ohne Tapeten, an manchen Stellen blätterte der Putz wie in einem Gemäuer, das kurz vor dem Abriss steht. Die Männer sagten, er solle hier warten, und ließen ihn allein. Er setzte sich auf das Sofa und versank darin so tief, dass er das Gefühl hatte, gleich auf dem Fußboden zu hocken. Seine Knie waren fast in Augenhöhe, selbst ein Zwerg konnte jetzt auf dem Schreibtischstuhl gegenüber Platz nehmen und neben ihm wie ein Riese erscheinen. Er wollte sich gerade aus dem Sofa herausstemmen, als ein Mann den Raum betrat.
»Keine Umstände bitte, bleiben Sie sitzen und machen es sich bequem«, sagte er und setzte sich hinter den Schreibtisch.
Zumindest hat er Humor, dachte Tang und fiel zurück in die elendig weiche Polsterung.
Der Mann schaute lange auf ihn herab, ohne etwas zu sagen. Er war jung, vermutlich nicht einmal vierzig, und hatte einen festen Blick, dem Tang nicht auswich. Er glaubte doch nicht ernsthaft, dass er ihn damit einschüchtern konnte.
»Victor Tang«, sagte der Fremde nach einer Weile und zog die Worte dabei unnatürlich in die Länge.
»Richtig. Und wer sind Sie?«
»Mein Name ist Wen, Inspektor Wen. Ich gehöre zu einer Sondereinheit des Innenministeriums und leite die Ermittlungen gegen Sie.«
»Seit wann wird gegen mich ermittelt?«, fragte Tang erstaunt, und seine Überraschung war nicht gespielt.
»Offiziell seit gestern. Inoffiziell schon etwas länger.«
Lag es an diesem verdammten Sofa oder der unerträglich arroganten Stimme dieses Menschen?
Tang begann sich unwohl zu fühlen, rutschte hin und her auf der Suche nach einer komfortableren Sitzposition, in der er mit seinen langen
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