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Das Flüstern der Schatten

Das Flüstern der Schatten

Titel: Das Flüstern der Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan-Philipp Sendker
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sagte Tang mit bebender Stimme, »können Sie den Großteil der Parteikader, Beamten und Unternehmer in diesem Land verhaften.«
    »Ich ermittle nicht gegen einen Großteil, Herr Tang. Ich ermittle gegen Sie.«
    »Das ist Willkür. Heute bin ich es, der in Ungnade fällt, morgen suchen Sie sich ein anderes Opfer. Und der Rest? Bleibt unbehelligt! Was bereiten Sie vor? Einen Schauprozess?«
    »Ein Schauprozess zeichnet sich meines Wissens dadurch aus, dass die Vorwürfe erfunden sind und die Urteile vor Beginn der Verhandlungen feststehen. Unsere Anklage gegen Sie wird ausschließlich auf Fakten beruhen. Entscheiden werden unabhängige Richter.«
    »Das ist nicht Ihr Ernst. Auf der Grundlage derselben Fakten können Sie Zehntausende, ach was, Millionen einsperren.«
    »Mein Auftrag lautet, gegen Sie zu ermitteln. Der Rest interessiert mich im Moment nicht.« Er machte eine Pause und fügte mit einem kurzen Lächeln hinzu: »Irgendwo müssen wir ja anfangen.«
    Es war dieses Lächeln, das in Tang auf einmal eine abgründige, bodenlose Angst auslöste, eine Furcht, von der er glaubte, er hätte sie für immer hinter sich gelassen. Er kannte dieses Lächeln von sich selbst. Es war das böse, verächtliche Lächeln, das die Mächtigen für ihre Opfer übrighatten.
    Dieses Verhör war erst der Anfang. Vermutlich hatten sie schon seine Büros und sein Haus durchsucht und seine Geschäftsführer festgenommen. Victor Tang stand nicht mehr aufrecht. Er gehörte plötzlich nicht mehr zu denen, die die Wahrheit nach Belieben biegen und verformen, notfalls sogar völlig auseinandernehmen und gänzlich neu zusammensetzen konnten.
    Er sah seinen Vater. Die Meute war auf dem Weg zum Marktplatz. Er vernahm bereits ihre Rufe.
    Wenn ihn etwas retten konnte, dann die Tatsache, dass es sich bei Inspektor Wen nicht um einen unabhängigen Ermittler handelte, der Recht und Gesetz verpflichtet war. Er war ein Werkzeug, ein Handlanger der Macht, und Machtverhältnisse ändern sich, dachte Tang.
    Ein zweiter Mann kam herein, ging zu Wen, beugte sich hinab und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Die Männer unterhielten sich eine Weile leise, ohne dass Tang ein Wort verstand. Der Fremde beobachtete ihn dabei, so wie man einen Hund im Auge behält, von dem man nicht weiß, ob er gleich zuschnappt. Er war kleiner und um einiges älter als der Inspektor und kam Tang irgendwie bekannt vor. Er richtete sich auf, kam um den Schreibtisch herum und fixierte ihn, ohne etwas zu sagen. Sie hatten sich schon einmal getroffen, aber wo? Warum ließ ihn sein sonst so ausgezeichnetes Gedächtnis ausgerechnet jetzt im Stich?
    »Kennen wir uns?«
    Der Mann nickte.
    »Woher?«
    »Aus einem Kloster.«
    »Wo haben wir uns gesehen?« Tang konnte sich nicht erinnern, wann er das letzte Mal ein Kloster betreten hatte.
    »Bei einer Hinrichtung.«
    »Wessen Hinrichtung?«
    »Meiner«, antwortete er, streckte seine Arme aus und machte eine Bewegung, als hielte er etwas in den Händen, als hole er zu einem gewaltigen Schlag aus. Woher kam dieser modrige Geruch? Was war das für ein entsetzliches Geräusch, das Tang durch Mark und Bein ging? Zersplitterndes Holz.
    »Meiner«, wiederholte David Zhang, »und deiner.«

XXXIII
    Sie hatte ohne schweres Gepäck kommen wollen, ohne die entsetzliche Furcht der vergangenen Tage und Nächte, in denen sie vor Angst um ihn kaum schlafen konnte, ohne Fragen nach dem, was in dieser Zeit geschehen war, und vor allem ohne den Ballast hoher Erwartungen. Er hatte sie am Morgen angerufen und sie zum Abendessen eingeladen und gefragt, ob sie unter Umständen Lust hätte, über Nacht bei ihm zu bleiben. Seine Stimme hatte dabei ganz anders geklungen als sonst, sehr gelöst, ja fröhlich, und sie wollte jetzt nichts als jene Freude und Leichtigkeit mitbringen, die sie seit diesem Gespräch durch den ganzen Tag getragen hatten. Sie wollte einfach den Abend und die Nacht mit ihm verbringen, sehen, was geschieht, und nicht enttäuscht sein, wenn es nicht viel war, was sich tat.
    Aber spätestens nachdem sie sich ihren Weg durch die Hecke und den Bambus gebahnt, die Gartenpforte geöffnet und wieder hinter sich geschlossen und das Haus und die Terrasse gesehen hatte, waren all jene Erwartungen und Sehnsüchte geweckt, die sie eigentlich in Hongkong lassen wollte.
    Paul hatte den Garten in einen Zauberwald verwandelt, Teelichter, dicht an dicht gestellt, markierten die Terrasse, in die Bäume hatte er mehrere weiße und rote Lampions gehängt, um die

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