Das Foucaultsche Pendel
auf der Karte unter dem Pendel, auf den die Pendelspitze in dem Augenblick zeigt, in dem sie von dem Sonnenstrahl getroffen wird, da liegt der Umbilicus!«
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»Perfekt«, sagte Belbo. »Und wenn es bewölkt ist?«
»Dann wartet man auf das nächste Jahr.«
»Entschuldigung«, wandte Belbo nochmals ein. »Das letzte Treffen ist in Jerusalem. Hängt dann das Pendel nicht eher in der Kuppel der Omar-Moschee?«
»Nein«, versicherte ich. »An bestimmten Punkten der Erde vollzieht das Pendel seinen Zyklus in sechsunddreißig Stunden, am Nordpol würde es vierundzwanzig Stunden brauchen, und am Äquator würde sich die Schwingungsebene nie ändern. Also kommt es auf den Ort an. Wenn die Templer ihre Entdeckung in Saint-Martin gemacht haben, gilt ihre Berechnung nur für Paris, denn in Palästina würde das Pendel eine andere Kurve beschreiben.«
»Und wer sagt uns, daß sie ihre Entdeckung in Saint-Martin gemacht haben?«
»Die Tatsache, daß sie Saint-Martin zu ihrem Refugium gemacht haben, daß sie es die ganze Zeit unter Kontrolle gehalten haben, vom Prior des Klosters Saint Albans über Guillaume Postel bis zum Konvent, die Tatsache, daß sie nach Foucaults ersten Experimenten das Pendel dort haben anbringen lassen... Es gibt zu viele Indizien.«
»Aber das letzte Treffen ist in Jerusalem.«
»Na und? In Jerusalem wird die Botschaft zusammenge-setzt, und das geht nicht in fünf Minuten. Dann bereitet man sich ein Jahr lang vor, und am 23. Juni des nächsten Jahres treffen sich alle sechs Gruppen in Paris, um endlich zu erfahren, wo der Umbilicus ist, und sich daran zu machen, die Welt zu erobern.«
»Aber«, beharrte Belbo, »da ist noch was anderes, was mir nicht einleuchten will. Daß es bei der letzten Enthüllung um den Umbilicus gehen würde, wußten alle Sechsunddreißig.
Das Pendel war schon in den Kathedralen benutzt worden, ergo war es kein Geheimnis. Was also hinderte Bacon oder Postel oder auch Foucault — denn wenn er die Sache mit dem Pendel aufgezogen hatte, muß auch er zu der Clique gehört haben —, was zum Teufel hinderte sie daran, eine Karte der Welt auf den Boden zu legen und sie nach den Kardinalpunkten auszurichten? Wir sind auf dem Holzweg.«
»Wir sind nicht auf dem Holzweg«, sagte ich. »Die Bot-546
schaft sagt etwas, das niemand wissen konnte: Was für eine Karte man nehmen mußte!«
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A map is not the territory. *
Alfred Korzybski, Science and Sanity, 1933; 4. ed., The International Non-Aristotelian Library, 1958, II, 4, p. 58
»Ist Ihnen der Stand des Kartenwesens zur Zeit der Templer gegenwärtig?« fragte ich, »Damals kursierten arabische Karten, die Afrika oben und Europa unten zeigten, Seekar-ten, die im großen ganzen schon recht genau waren, und Karten, die bereits drei- bis vierhundert Jahre alt waren, aber in den Schulen noch immer als brauchbar galten. Beachten Sie, daß man, um anzugeben, wo der Nabel der Welt ist, keine genaue Karte in dem Sinne braucht, wie wir heute den Begriff der genauen Karte verstehen. Es genügt, daß sie eine Karte ist, die, einmal ausgerichtet, den Nabel an dem Punkt zeigt, über welchem das Pendel beim ersten Sonnenstrahl am Morgen des 24. Juni aufleuchtet. Nun passen Sie auf.
Nehmen wir rein hypothetisch an, der Nabel der Welt wäre in Jerusalem. Auf unseren heutigen Karten liegt Jerusalem an einem bestimmten Punkt, und der ist auch heute noch abhängig von der Projektion. Aber die Templer benutzten eine Gott weiß wie beschaffene Karte. Und warum auch nicht, was scherte es sie? Nicht das Pendel richtet sich nach der Karte, sondern die Karte richtet sich nach dem Pendel.
Verstehen Sie, was ich meine? Es konnte die unsinnigste Karte der Welt sein, solange nur, wenn sie einmal unter dem Pendel lag, der erste Sonnenstrahl am Morgen des 24. Juni den Punkt traf, wo auf dieser und keiner anderen Karte Jerusalem lag.«
»Aber das löst unser Problem nicht«, sagte Diotallevi.
»Sicher nicht, und auch nicht das der sechsundreißig Unsichtbaren. Denn ohne die richtige Karte läuft gar nichts.
Denken wir uns mal versuchsweise eine Karte mit der üblichen Orientierung, also mit dem Osten zur Apsis und dem
* Eine Karte ist nicht das Territorium.
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Westen zum Schiff, denn so sind die Kirchen orientiert. Nun stellen wir eine beliebige Hypothese auf, beispielsweise: daß sich in dem schicksalhaften Moment das Pendel über einer Gegend irgendwo im Südosten befinden muß. Wenn es sich um eine Uhr handelte, würden wir sagen, das
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