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Das Foucaultsche Pendel

Das Foucaultsche Pendel

Titel: Das Foucaultsche Pendel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Umberto Eco
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letzten Enthüllung um den Umbilicus gehen würde, wussten alle Sechsunddreißig. Das Pendel war schon in den Kathedralen benutzt worden, ergo war es kein Geheimnis. Was also hinderte Bacon oder Postel oder auch Foucault — denn wenn er die Sache mit dem Pendel aufgezogen hatte, muß auch er zu der Clique gehört haben —, was zum Teufel hinderte sie daran, eine Karte der Welt auf den Boden zu legen und sie nach den Kardinalpunkten auszurichten? Wir sind auf dem Holzweg.«
    »Wir sind nicht auf dem Holzweg«, sagte ich. »Die Botschaft sagt etwas, das niemand wissen konnte: Was für eine Karte man nehmen musste!«

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    A map is not the territory.
    (Eine Karte ist nicht das Territorium.)
    Alfred Korzybski, Science and Sanity, 1933; 4. ed., The International Non-Aristotelian Library, 1958, II, 4, p. 58
     
    »Ist Ihnen der Stand des Kartenwesens zur Zeit der Templer gegenwärtig?« fragte ich, »Damals kursierten arabische Karten, die Afrika oben und Europa unten zeigten, Seekarten, die im großen ganzen schon recht genau waren, und Karten, die bereits drei-bis vierhundert Jahre alt waren, aber in den Schulen noch immer als brauchbar galten. Beachten Sie, daß man, um anzugeben, wo der Nabel der Welt ist, keine genaue Karte in dem Sinne braucht, wie wir heute den Begriff der genauen Karte verstehen. Es genügt, daß sie eine Karte ist, die, einmal ausgerichtet, den Nabel an dem Punkt zeigt, über welchem das Pendel beim ersten Sonnenstrahl am Morgen des 24. Juni aufleuchtet. Nun passen Sie auf. Nehmen wir rein hypothetisch an, der Nabel der Welt wäre in Jerusalem. Auf unseren heutigen Karten liegt Jerusalem an einem bestimmten Punkt, und der ist auch heute noch abhängig von der Projektion. Aber die Templer benutzten eine Gott weiß wie beschaffene Karte. Und warum auch nicht, was scherte es sie? Nicht das Pendel richtet sich nach der Karte, sondern die Karte richtet sich nach dem Pendel. Verstehen Sie, was ich meine? Es konnte die unsinnigste Karte der Welt sein, solange nur, wenn sie einmal unter dem Pendel lag, der erste Sonnenstrahl am Morgen des 24. Juni den Punkt traf, wo auf dieser und keiner anderen Karte Jerusalem lag.«
    »Aber das löst unser Problem nicht«, sagte Diotallevi.
    »Sicher nicht, und auch nicht das der sechsundreißig Unsichtbaren. Denn ohne die richtige Karte läuft gar nichts. Denken wir uns mal versuchsweise eine Karte mit der üblichen Orientierung, also mit dem Osten zur Apsis und dem Westen zum Schiff, denn so sind die Kirchen orientiert. Nun stellen wir eine beliebige Hypothese auf, beispielsweise: daß sich in dem schicksalhaften Moment das Pendel über einer Gegend irgendwo im Südosten befinden muß. Wenn es sich um eine Uhr handelte, würden wir sagen, das Pendel muß fünf vor halb sechs anzeigen. Okay? Nun sehen sie sich einmal dies hier an.«
    Ich schlug eine Geschichte der Kartografie auf.

    Mappa Mundi der Bibliothek Turin (12. Jh.)
    aus Leon Gautier, La Chavalerie, Paris, Palme, 1884, p. 153

    Mappa Mundi
    aus Leon Gautier, La Chavalerie, Paris, Palme, 1884, p. 153
     
    »Hier, Nummer eins, eine Weltkarte aus dem zwölften Jahrhundert. Folgt dem Modell der Karten in T-Form, oben Asien mit dem Irdischen Paradies, links Europa, rechts Afrika und ganz rechts, jenseits von Afrika, haben wir die Antipoden. Nummer zwei, ein Kartentyp, der sich an Macrobius' Somnium Scipionis inspiriert und in einigen Varianten bis ins sechzehnte Jahrhundert überlebt. Afrika ist ein bisschen schmal geraten, aber naja. Nun passen Sie auf. orientieren Sie die beiden Karten in gleicher Weise, und Sie werden feststellen, daß die Position fünf vor halb sechs auf der ersten Karte etwa Arabien entspricht und auf der zweiten etwa Neuseeland, denn dort sind unsere Antipoden. Wir können alles über das Pendel wissen, aber wenn wir nicht wissen, welche Karte wir nehmen sollen, sind wir verloren. Die Botschaft enthielt Angaben, höchst verschlüsselte selbstverständlich, über die richtige Karte, die womöglich extra zu dem Zweck gezeichnet worden war. Die Botschaft sagte, wo man diese Karte finden konnte, in welchem Manuskript in welcher Bibliothek, in welcher Abtei oder Burg. Und es konnte sogar sein, daß John Dee oder Bacon oder sonst jemand die Botschaft rekonstruiert hatte — wer weiß, die Botschaft sagte, die Karte findet sich da und da, aber inzwischen, nach allem, was in Europa passiert war, ist die Abtei mit der Karte abgebrannt, oder die Karte ist gestohlen worden und liegt nun Gott weiß wo

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