Das Foucaultsche Pendel
sein Büro. Diesmal verlor Belbo die Kontrolle. Jedenfalls so, wie er die Kontrolle verlieren konnte. Er wartete, bis Agliè draußen war, und knurrte dann zwischen den Zähnen: » Ma gavte la nata. «
Lorenza, die noch bei ihren komplizenhaften Begrüßungsgesten war, fragte ihn, was das heiße.
»Das ist Turinerisch. Heißt soviel wie: Zieh dir mal den Pfropfen raus, oder wenn du's so lieber hast: Wollen Sie sich bitte gütigst den Stöpsel entfernen. Angesichts einer steif und geschwollen daherredenden Person nimmt man an, daß sie von ihrem eigenen Dünkel aufgeblasen sei, und zugleich unterstellt man, daß diese übermäßige Selbsteinschätzung den geblähten Leib nur kraft eines Pfropfens so prall erhalte, eines korkenähnlichen Stöpsels, der, in den After eingeführt, verhindert, daß diese ganze aerostatische Würde einfach verpufft; dergestalt, daß man mit der Aufforderung an das Subjekt, sich besagten Stöpsels per Extraktion zu entledigen, dieses dazu verurteilen will, sein eigenes Erschlaffen herbeizuführen, ein jähes und irreversibles Zusammenschnurren, nicht selten begleitet von scharfem Zischen, mit Reduktion der verbleibenden Hülle zu einem traurigen Rest, einem blassen Abbild und blutleeren Schatten der einstigen Majestät.«
»Ich dachte nicht, daß du so vulgär sein kannst.«
»Jetzt weißt du's.«
Lorenza war mit gespieltem Ärger gegangen. Ich wusste, daß Belbo darunter noch mehr litt: eine echte Wut hätte ihn befriedigt, eine gespielte brachte ihn auf den Gedanken, daß bei Lorenza auch die Anflüge von Leidenschaft immer nur Theater waren.
Und deswegen, glaube ich, sagte er nun mit Entschiedenheit, kaum daß sie draußen war: »Also machen wir weiter!« Was heißen sollte: Basteln wir weiter am Großen Plan, arbeiten wir ernsthaft.
»Ich hab keine Lust«, sagte daraufhin Diotallevi. »Ich fühl mich nicht wohl. Ich hab Schmerzen hier«, und er fasste sich an den Bauch. »Scheint eine Gastritis zu sein.«
»Ach nein!« rief Belbo. » Du hast eine Gastritis, und ich hab keine... Wovon hast du denn Gastritis gekriegt? Vom Mineralwasser?«
»Schon möglich«, sagte Diotallevi mit müdem Lächeln. »Gestern Abend hab ich's übertrieben. Ich bin an Fiuggi gewöhnt und hab San Pellegrino getrunken.«
»Na, Pass bloß auf, solche Exzesse können dich umbringen. Aber lass uns jetzt weitermachen, seit zwei Tagen brenne ich drauf, euch zu erzählen, was ich entdeckt habe. Ich weiß endlich, warum die Sechsunddreißig Unsichtbaren seit Jahrhunderten nicht in der Lage sind, die Form der Karte zu bestimmen. John Dee hatte sich geirrt, die ganze Geografie muß neu gemacht werden. Wir leben im Innern einer hohlen Erdkugel, umhüllt von der Erdoberfläche. Und Hitler hat es gewusst.«
99
Der Nazismus war der Moment, in dem der magische Geist sich der Hebel des materiellen Fortschritts bemächtigte. Lenin sagte, Kommunismus sei Sozialismus plus Elektrizität. In gewisser Hinsicht kann man sagen, Hitlerismus war Guénonismus plus Panzerdivisionen.
Pauwels & Bergier, Le matin des magiciens, Paris, Gallimard, 1960, 2, VII
Belbo war es gelungen, auch Hitler in den Großen Plan einzubauen. »Steht alles geschrieben, schwarz auf weiß. Es ist erwiesen, daß die Begründer des Nazismus mit dem teutonischen Neutemplerismus zusammenhingen.«
»Sie verkohlen uns!«
»Nein, ehrlich, Casaubon, ich erfinde nichts, diesmal erfinde ich wirklich nichts.«
»Also bitte, wann hätten wir jemals etwas erfunden? Wir sind immer von objektiven Fakten ausgegangen, in jedem Fall von allgemein zugänglichen Daten.«
»Auch diesmal. Also aufgepasst: im Jahre 1912 tritt ein Germanenorden hervor, der eine ›Ariosophie‹ propagiert, soll heißen, eine Philosophie der arischen Überlegenheit Sechs Jahre später, 1918, gründet ein gewisser Baron von Sebottendorff eine Filiale, die Thule-Gesellschaft, einen Geheimbund, eine soundsovielte Variante der Strikten Observanz neu-templerischer Prägung, aber mit starken rassistischen Zügen: pangermanisch, neo-arisch. Und 1933 wird derselbe Sebottendorff schreiben, er habe gesät, was Hitler dann habe reifen lassen. Tatsächlich taucht das Hakenkreuz erstmals im Umkreis der Thule-Gesellschaft auf. Und wer gehört sofort zu dieser Thule-Gesellschaft? Rudolf Heß, Hitlers Schatten! Und dann Alfred Rosenberg! Und Hitler selbst! Und sicher habt ihr in der Zeitung gelesen, daß Heß sich noch heute in seinem Spandauer Gefängnis mit esoterischen Wissenschaften
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