Die geheimnisvolle Tuer
1.
Das unheimliche U
Alexander fährt nicht gern Aufzug. Deswegen möchte er auch viel lieber im ersten Stock wohnen oder, das wäre noch besser, in einem schönen Einfamilienhaus, in dem es gar keinen Aufzug gibt. Aber er wohnt nun mal im siebten Stock eines Hochhauses, und da bleibt ihm hin und wieder nichts anderes übrig, als mit dem Aufzug zu fahren.
Zum Beispiel morgens, wenn er sich beeilen muss, weil er wieder mal nicht rechtzeitig aus dem Bett gekommen ist. Dann drückt er den Aufzugknopf, lauscht auf die Geräusche und schaut die Tür an. Wenn sie sich öffnet und der dicke Brackmann aus dem achten Stock drinsteht, steigt Alexander nicht ein, egal wie spät er dran ist. Der stinkt nämlich nach Zigarrenrauch, dass einem in der kleinen Kabine übel wird. Und Daniel aus dem sechsten Stock sagt immer:»Wer Zigarren raucht, frisst auch kleine Kinder.«
Wenn Alexander den dicken Bauch vom Brackmann sieht, kann er sich gut vorstellen, dass der kleine Kinder frisst. Vielleicht sogar im Aufzug, wenn er mit ihnen allein nach oben oder unten fährt. Und weil Alexander nicht in Brackmanns Bauch landen möchte, rennt er lieber die Treppe hinunter, wenn der dicke Brackmann im Aufzug steht.
Ist der Aufzug leer, steigt Alexander ein und drückt den E-Knopf . Auf dem Weg nach unten atmet Alexander kaum.
Jedes Mal stellt er sich vor, wie es wäre, wenn der Aufzug irgendwo hängen bliebe und er in diesem fensterlosen Gefängnis Stunden, Tage oder gar Wochen verbringen müsste. Noch schlimmer als diese Vorstellung ist für Alexander, wenn der Aufzug unterwegs anhält und die Tür sich öffnet. Dann macht er sich bereit zum Sprung. Man kann ja nie wissen, wer draußen steht. Es könnte zum Beispiel die alte Kreuzberger sein, die fast so gefährlich ist wie der dicke Brackmann.
Alexander glaubt zwar nicht, dass sie kleine Kinder frisst, aber sie schwallt ihm die Ohren voll und betatscht ihn dabei auch noch mit ihren dürren Vampirfingern, dass er sich richtig gruselt.
Schön ist es im Aufzug nur, wenn Lisa einsteigt. Dann wünscht sich Alexander, das Haus wäre ein Wolkenkratzer mit hundert Stockwerken und sie beide würden im hundertsten Stock wohnen. Aber Lisa wohnt leider im zweiten Stock. Deswegen fährt sie auch nicht oft mit dem Aufzug. Und wenn, dann ist die Fahrt viel zu kurz. Das findet jedenfalls Alexander.
Ob Lisa das auch findet, weiß er nicht. Er hat sie noch nie gefragt.
Weil Alexander – von wenigen Ausnahmen abgesehen – also nicht gern mit dem Aufzug fährt, muss er jeden Tag viele Treppen rauf- und runterlaufen. Auf diese Weise ist er zu einem guten Sportler geworden, denn Treppenlaufen gibt Kondition und Muskeln.
Wenn seine Mitschüler in der Sportstunde schon nach einer Stadionrunde keuchen undstöhnen, kann Alexander nur lachen. Eine Runde ist für ihn ein Klacks. Danach ist er erst richtig warm und zieht das Tempo langsam an. Und wenn die andern völlig ausgepumpt auf der Bahn liegen, läuft Alexander immer noch.
»Alexander, du hast eine Pferdelunge«, sagt Herr Simmack oft. »Du wirst mal ein richtig guter Langstreckenläufer, wenn du so weitermachst.«
Herr Simmack ist Alexanders Lehrer und ziemlich stolz auf »das große Talent«, wie er ihn nennt. Alexander hat nicht die Absicht, Langstreckenläufer zu werden. Er will lieber den Urwald erforschen, wenn er groß ist. Aber das sagt er seinem Lehrer nicht, weil der sonst enttäuscht wäre.
Alexander erzählt überhaupt selten etwas von dem, was ihn beschäftigt und was ihm wichtig ist. Wenn er zum Beispiel zugibt, dass er nicht gern Aufzug fährt, wird er ausgelacht.
Wenn er erzählt, dass er später Urwaldforscher werden will, heißt es: »Du spinnst!« Und dass er einen richtigen Vater habenmöchte, der jeden Tag zu Hause ist und mit ihm spielt, das sagt Alexander schon gar nicht mehr, weil seine Mutter ihm sonst wieder lang und breit erklärt, was für miese Typen die Männer sind.
Wenn Alexander an den dicken Brackmann denkt, muss er seiner Mutter recht geben. Aber trotz ihrer Erzählungen und trotz des nach Zigarren stinkenden und kleine Kinder fressenden Brackmann sitzt bei Alexander tief drinnen noch die Hoffnung, dass es auch andere Männer gibt, wenigstens ein paar. Männer, die nett und lieb sind, die mit Kindern spielen. Und einen davon hätte er gern als Vater. Der würde ihn vor dem dicken Brackmann beschützen und vor der alten Kreuzberger mit ihren ekligen Vampirfingern.
Weil Alexander keinen Vater hat, der ihn
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