Das Foucaultsche Pendel
einer Baumwollfabrik, in Jeansjacke und mit Bart, beim Pokern mit einem künftigen Untergrundkämpfer im Zweireiher und mit Krawatte sehen. Wir standen am Beginn eines großen Paradigmenwechsels. Noch zu Anfang der sechziger Jahre war der Bart ein Abzeichen der Faschisten gewesen — man musste ihn nur wie Italo Balbo tragen: spitz zulaufend, mit glatt rasierten Wangen —, Achtundsechzig war er dann zum Symbol der Protestbewegung geworden, und jetzt wurde er allmählich neutral, ein allgemeines Zeichen der Freiheit. Der Bart war seit jeher Maske gewesen (man klebt sich einen falschen Bart an, um nicht erkannt zu werden), aber zu Beginn der siebziger Jahre konnte man sich auch mit einem echten Bart vermummen. Man konnte lügen, indem man die Wahrheit sagte, ja indem man die Wahrheit enigmatisch und ungreifbar machte, denn angesichts eines Bartes konnte niemand mehr auf die Gesinnung des Trägers schließen. An jenem Abend indessen prangte der Bart auch auf den glatten Gesichtern derer, die gerade dadurch, dass sie keinen trugen, zu verstehen gaben, dass sie durchaus einen tragen könnten und nur der Provokation wegen darauf verzichteten.
Aber ich schweife ab. Gegen elf erschienen Belbo und Diotallevi, einander mit verstörter Miene herbe Kommentare über ihr soeben absolviertes Essen zuraunend. Erst später erfuhr ich, was es mit den Einladungen des Signor Garamond auf sich hatte.
Belbo ging gleich zu seinen bevorzugten Destillaten über, Diotallevi überlegte lange, entnervt, und bestellte schließlich ein Tonicwater. Wir fanden ein Tischchen im hinteren Teil der Bar, das gerade zwei Straßenbahner räumten, die am nächsten Morgen früh aufstehen mussten.
»Also los«, begann Diotallevi. »Diese Templer ...«
»Nein, bitte nicht jetzt«, versuchte ich mich zu drücken. »Das sind doch Sachen, die man überall nachlesen kann.«
»Wir sind für die mündliche Überlieferung«, sagte Belbo.
»Die ist mystischer«, erklärte Diotallevi. »Gott schuf die Welt, indem er sprach. Er hat kein Telegramm geschickt.«
»Fiat lux. Stop. Brief folgt«, murmelte Belbo.
»Vermutlich an die Thessalonicher«, sagte ich.
»Die Templer!« beharrte Belbo.
»Also«, begann ich.
»Man fängt nie mit also an«, tadelte Diotallevi.
Ich machte Anstalten, mich zu erheben. Wartete, dass sie mich baten zu bleiben. Sie taten es nicht. Ich setzte mich wieder und sprach.
»Naja, ich meine, die Geschichte kennt ja doch jeder. Da wäre der erste Kreuzzug, klar? Gottfried von Bouillon betet am Heiligen Grab und erfüllt sein Gelübde, Balduin wird der erste König von Jerusalem, Ein christliches Reich im Heiligen Land. Aber Jerusalem halten ist eine Sache, das übrige Palästina ist eine andere, die Sarazenen sind zwar geschlagen, aber nicht ausgeschaltet. Das Leben ist nicht leicht da unten, weder für die Neuansässigen noch für die Pilger. Tja, und dann kommen 1118, unter Balduin II., neun Typen daher, angeführt von einem gewissen Hugo von Payns, und bilden den ersten Kern eines Ordens der Armen Ritter Christi: einen monastischen Orden, aber mit Schwert und Rüstung. Mit den drei klassischen Gelübden, Armut, Keuschheit, Gehorsam, aber ergänzt um den Schutz der Pilger. Der König, der Bischof, alle in Jerusalem helfen ihnen sofort, spenden Geld, bringen sie im Kloster des alten Tempels von Salomo unter. Tja, und so werden sie Tempelritter.«
»Was sind es für Leute?«
»Hugo und die ersten acht sind wahrscheinlich noch Idealisten, von der Kreuzzugmystik durchdrungen. Aber später sind es dann junge Kerle, zweitgeborene Adelssöhne auf der Suche nach Abenteuern. Das neue Reich von Jerusalem ist ein bisschen das Kalifornien jener Epoche, da kann man sein Glück machen. Zu Hause haben sie nicht viele Chancen, für einige war der Boden wohl auch zu heiß geworden. Ich sehe die ganze Sache etwa so wie die Fremdenlegion. Was macht man, wenn man in der Tinte sitzt? Man geht zu den Templern, da kommt man in der Welt rum, amüsiert sich, darf sich raufen, kriegt zu essen und was zum Anziehen, und am Ende hat man sogar seine Seele gerettet. Natürlich, man musste schon ziemlich am Ende sein, es bedeutete schließlich, in die Wüste zu gehen, in Zelten zu schlafen, tage- und nächtelang keine lebende Seele zu sehen außer anderen Templern, und in der glühenden Sonne zu reiten, quälenden Durst zu ertragen und anderen armen Teufeln den Bauch aufzuschlitzen ...«
Ich hielt einen Augenblick inne. »Vielleicht mach ich's ein bisschen zu
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