Der Schwur der Ritter
Die Frau vor dem Tor
1
S
ELBST EIN BLINDER hätte sehen können, dass etwas nicht stimmte, und Tam Sinclairs Augenlicht war hervorragend. Über seine Geduld hingegen ließ sich das nicht sagen. Das Licht des Nachmittags ging allmählich in die Dämmerung über, und nach drei anstrengenden Reisetagen kam Tam nun eine halbe Meile vor dem Ziel nicht mehr weiter. Die Zügel seines ermüdeten Gespanns hingen nutzlos in seinen Händen, während ihm die Menge den Weg versperrte und sich so dicht um seine Pferde drängte, dass diese schnaubend mit den Hufen scharrten und nervös die Köpfe schüttelten. Auch Tam selbst wurde inmitten des Gedränges zunehmend wütender. Er hatte ohnehin nichts für Menschenmengen übrig, und die feste Masse, von der er sich jetzt umgeben sah, verwehrte ihm mit dem Gestank ihrer ungewaschenen Körper selbst die einfachen Freuden des Atmens.
»Ewan!«
»Aye!« Einer der beiden jungen Männer, die es sich auf der abgedeckten Fracht des Wagens gemütlich gemacht hatten und sich miteinander unterhielten, richtete sich auf und stützte sich mit den Armen auf den Kutschbock. »Hoppla! Was geht hier vor? Woher kommen plötzlich all diese Menschen?«
»Wenn ich das wüsste, bräuchte ich Eure Debatte mit Eurem jungen Freund nicht zu unterbrechen.« Tam warf einen Seitenblick auf den anderen Mann und verzog den Mund, den sein schütterer Bart kaum verhüllte, zu einer Miene, die genauso gut ein Grinsen wie Ausdruck der Missbilligung hätte sein können. »Geht zum Tor und findet heraus, was geschehen ist und wie lange wir wohl hier festsitzen werden. Vielleicht ist dort jemand zusammengebrochen oder gestorben. Falls es so ist, sucht uns bitte ein anderes Tor, das wir noch vor der Sperrstunde erreichen können. Ich habe den Hintern voller Splitter von diesem verdammten Kutschbock, und ich kann es gar nicht abwarten, das Scheppern zu hören, wenn wir unsere Fuhre rostigen Abfall beim Schmelzer abladen. Beeilt Euch. Ich möchte heute Nacht nicht außerhalb dieser Mauern schlafen. Los, ab mit Euch.«
»Schon gut.« Ewan stützte sich mit der Hand auf die Wagenkante, sprang mit einem Satz hinaus, landete mühelos auf dem Straßenpflaster und schob sich in die Menge. La Rochelle war der größte und geschäftigste Hafen Frankreichs, und vor ihm lag das hohe Südtor, auf dessen Wachtposten eine Zufahrt zuführte, die sich immer weiter verjüngte.
Tam blickte dem Jungen nach und schwang sich dann ebenfalls vom Wagen, wenn auch nicht ganz so behände. Der Fahrer des Wagens war ein Mann von kraftvollem Aussehen, der den Zenit des Lebens noch nicht überschritten hatte, der sich jedoch schon vor Jahren mit Freuden von dem Anspruch verabschiedet hatte, körperlich mit seinen Gehilfen mithalten zu müssen. Mit einem ungeduldigen Blick auf die Passanten, die ihm am nächsten waren, bahnte er sich den Weg zu einem kleinen Eichenfass, das mit einem Hanfseil an der Außenwand des Wagens befestigt war. Er griff nach der Schöpfkelle, hob den losen Fassdeckel und führte die bis zum Rand mit kühlem Wasser gefüllte Kelle an seinen Mund. Auch als er sich jetzt umsah, erblickte er nichts, was erklärt hätte, warum das Tor blockiert war. Ihm fiel zwar auf, dass die Mauerzinnen rechts und links der hohen Tore mit zahlreichen Armbrustschützen gesäumt waren, doch diese schienen sich nicht besonders für das Geschehen unter ihnen zu interessieren.
Plötzlich hörte er Geschrei. Drei Männer kamen durch die Menge auf ihn zugepflügt und versuchten zu fliehen. Als sei sie ein Lebewesen, das die Furcht der Flüchtenden spürte, wich die Menge vor ihnen zurück – und entblößte sie so den Blicken der Wachtposten vor den Toren und auf den Mauerzinnen.
Der Ruf des Korporals, der den Flüchtenden das Halten befahl, verhallte ungehört, und das Wort hatte seine Lippen kaum verlassen, als der erste Armbrustbolzen mit einem Klirren, das die verblüffte Menge zum Schweigen brachte, auf das Pflaster traf. Das voreilig abgefeuerte Stahlgeschoss prallte von den abgenutzten Steinen ab und bohrte sich mit der Spitze in Tam Sinclairs hölzernes Wasserfass. Es zerschmetterte die Fassdauben, sodass sich eine kalte Flut über ihn ergoss, ihm die Hose durchtränkte und in einem lauten Schwall zu seinen Füßen aufplatschte.
Fluchend ließ sich Tam auf die nassen Steine fallen und brachte sich unter dem Wagen in Sicherheit, als ihm auch schon das Geräusch der nächsten Bolzen zischend und hämmernd in die Magengrube fuhr. Hamish,
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