Das Fräulein von Scuderi
tief sinnend vor sich nieder. Es war ihr, als müsse sie der höheren Macht gehorchen, die den Aufschluß irgend eines entsetzlichen Geheimnisses von ihr verlange, als könne sie sich nicht mehr den wunderbaren Verschlingungen entziehen, in die sie willenlos geraten.
Plötzlich entschlossen sprach sie mit Würde: Gott wird mir 46
Fassung und Standhaftigkeit geben; führt den Brußon her, ich will ihn sprechen.
So wie damals, als Brußon das Kästchen brachte, wurde um Mitternacht an die Haustür der Scuderi gepocht. Baptiste, von dem nächtlichen Besuch unterrichtet, öffnete. Eis-kalter Schauer überlief die Scuderi, als sie an den leisen Tritten, an dem dumpfen Gemurmel wahrnahm, daß die Wächter, die den Brußon gebracht, sich in den Gängen des Hauses verteilten.
Endlich ging leise die Türe des Gemachs auf. Desgrais trat herein, hinter ihm Olivier Brußon, fesselfrei, in anständigen Kleidern. Hier ist, sprach Desgrais, sich ehrerbietig verneigend, hier ist Brußon, mein würdiges Fräulein! und verließ das Zimmer.
Brußon sank vor der Scuderi nieder auf beide Knie, fle-hend erhob er die gefalteten Hände, indem häufige Tränen ihm aus den Augen rannen.
Die Scuderi schaute erblaßt, keines Wortes mächtig, auf ihn herab. Selbst bei den entstellten, ja durch Gram, durch grimmen Schmerz verzerrten Zügen strahlte der reine Ausdruck des treusten Gemüts aus dem Jünglingsantlitz.
Je länger die Scuderi ihre Augen auf Brußons Gesicht ru-hen ließ, desto lebhafter trat die Erinnerung an irgend eine geliebte Person hervor, auf die sie sich nur nicht deutlich zu besinnen vermochte. Alle Schauer wichen von ihr, sie vergaß, daß Cardillacs Mörder vor ihr kniee, sie sprach mit dem anmutigen Tone des ruhigen Wohlwollens, der ihr eigen: Nun Brußon, was habt Ihr mir zu sagen? Dieser, noch immer kniend, seufzte auf vor tiefer, inbrünstiger Wehmut und sprach dann: O mein würdiges, mein hochverehrtes Fräulein, ist denn jede Spur der Erinnerung an mich ver-flogen? Die Scuderi, ihn noch aufmerksamer betrachtend, erwiderte, daß sie allerdings in seinen Zügen die Ähnlichkeit mit einer von ihr geliebten Person gefunden, und daß 47
er nur dieser Ähnlichkeit es verdanke, wenn sie den tiefen Abscheu vor dem Mörder überwinde und ihn ruhig anhöre.
Brußon, schwer verletzt durch diese Worte, erhob sich schnell und trat, den finstern Blick zu Boden gesenkt, einen Schritt zurück. Dann sprach er mit dumpfer Stimme: Habt Ihr denn Anne Guiot ganz vergessen? – ihr Sohn Olivier – der Knabe, den Ihr oft auf Euren Knien schaukeltet, ist es, der vor Euch steht. O um aller Heiligen willen! rief die Scuderi, indem sie mit beiden Händen das Gesicht b e-deckend in die Polster zurücksank. Das Fräulein hatte wohl Ursache genug, sich auf diese Weise zu entsetzen.
Anne Guiot, die Tochter eines verarmten Bürgers, war von klein auf bei der Scuderi, die sie, wie die Mutter das liebe Kind, erzog mit aller Treu und Sorgfalt. Als sie nun heran-gewachsen, fand sich ein hübscher sittiger Jüngling, Claude Brußon geheißen, ein, der um das Mädchen warb. Da er nun ein grundgeschickter Uhrmacher war, der sein reichliches Brot in Paris finden mußte, Anne ihn auch herzlich liebgewonnen hatte, so trug die Scuderi gar kein Be-denken, in die Heirat ihrer Pflegetochter zu willigen. Die jungen Leute richteten sich ein, lebten in stiller, glücklicher Häuslichkeit, und was den Liebesbund noch fester knüpfte war die Geburt eines wunderschönen Knaben, der holden Mutter treues Ebenbild.
Einen Abgott machte die Scuderi aus dem kleinen Olivier, den sie stunden-, tagelang der Mutter entriß, um ihn zu liebkosen, zu hätscheln. Daher kam es, daß der Junge sich ganz an sie gewöhnte und ebensogern bei ihr war, als bei der Mutter. Drei Jahre waren vorüber, als der Brotneid der Kunstgenossen Brußons es dahin brachte, daß seine Arbeit mit jedem Tage abnahm, so daß er zuletzt kaum sich kümmerlich ernähren konnte. Dazu kam die Sehnsucht nach seinem schönen heimatlichen Genf, und so geschah es, daß die kleine Familie dorthin zog, des Wi-48
derstrebens der Scuderi, die alle nur mögliche Unterstützung versprach, unerachtet. Noch ein paarmal schrieb An-ne an ihre Pflegemutter, dann schwieg sie, und diese mußte glauben, daß das glückliche Leben in Brußons Heimat das Andenken an die früher verlebten Tage nicht mehr aufkommen lasse.
Es waren jetzt gerade dreiundzwanzig Jahre her, als Bru-
ßon mit seinem Weibe und Kinde Paris
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