Das fremde Gesicht
Spur von ihm oder seinem Wagen gesichtet worden.
Man hatte eine Gedenkmesse eine Woche nach dem Unglück abgehalten, doch da kein Totenschein ausgestellt worden war, lag eine Sperre auf dem gesamten gemeinsamen Vermögen von Edwin und Catherine Collins, und seine hohen Lebensversicherungen waren nicht ausgezahlt worden.
Schlimm genug für Mom, dieser schreckliche Kummer, auch ohne den Ärger, den ihr diese Leute machen, dachte Meg. »Ich komm’ morgen nachmittag raus, Mom. Wenn sie sich weiter so anstellen, müssen wir sie vielleicht verklagen.«
Sie überlegte kurz, entschied dann aber, daß ihre Mutter jetzt am allerwenigsten die Nachricht vertragen konnte, daß eine Frau, die Meghan zum Verwechseln ähnlich sah, erstochen worden war. Statt dessen erzählte Meg von dem Gerichtsverfahren, über das sie an diesem Tag berichtet hatte.
Lange Zeit lag Meghan unruhig im Bett und döste vor sich hin. Endlich schlief sie richtig ein.
Ein hoher Quietschton rüttelte sie wach. Das Faxgerät fing an zu jammern. Sie schaute auf die Uhr: Es war Viertel nach vier. Was in aller Welt …? dachte sie.
Sie knipste das Licht an, zog sich auf einen Ellbogen hoch und beobachtete, wie das Papier langsam aus der Maschine glitt. Sie sprang aus dem Bett, rannte durch den Raum und griff nach der Botschaft.
Sie lautete: VERSEHEN. ANNIE WAR EIN
VERSEHEN.
3
Tom Weicker, der zweiundfünfzigjährige Nachrichtenchef von PCD Channel 3, hatte sich Meghan Collins immer häufiger von der Hörfunk-Abteilung ausgeliehen. Er war dabei, einen weiteren Reporter für das Live-Nachrichtenteam nach sorgfältiger Überlegung auszuwählen, und hatte die Kandidaten abwechselnd ausprobiert, aber nun stand seine Entscheidung fest: Meghan Collins.
Er war zu dem Schluß gekommen, daß sie sich gut präsentierte, von einem Moment auf den anderen improvisieren konnte und selbst einer weniger wichtigen Nachricht stets ein Gefühl von Unmittelbarkeit und Dringlichkeit verlieh. Ihre juristische Ausbildung war ein echtes Plus bei Gerichtsverfahren. Sie sah verdammt gut aus und strahlte natürliche Wärme aus. Sie mochte Menschen und konnte mit ihnen umgehen.
Am Freitag morgen ließ Weicker Meghan zu sich kommen. Als sie an die offene Tür zu seinem Büro klopfte, winkte er sie herein. Meghan trug eine hervorragend sitzende Jacke in Tönen von Blaßblau und Rostbraun. Ein Rock aus der gleichen feinen Wolle reichte bis zu ihren Stiefeln hinunter. Klasse, dachte Weicker, genau richtig für den Job.
Meghan betrachtete Weickers Miene und versuchte, seine Gedanken zu erraten. Er hatte ein schmales, scharf geschnittenes Gesicht und trug eine randlose Brille. Dies und sein schon schütteres Haar ließen ihn älter erscheinen, als er tatsächlich war, und eher wie einen Bankkassierer denn wie ein Medienenergiebündel. Dieser Eindruck war jedoch schnell verflogen, sobald er zu sprechen anfing.
Meghan mochte Tom, wußte aber, daß er seinen Spitznamen »Tödlicher Weicker« nicht umsonst erhalten hatte. Als er begann, sie vom Rundfunksender auszuleihen, hatte er deutlich gemacht, es sei zwar eine schlimme, scheußliche Sache, daß ihr Vater sein Leben in dem Brückenunglück verloren habe, aber er brauche ihre Zusicherung, daß dies ihre Arbeitsleistung nicht beeinträchtigen werde.
Es hatte sie nicht beeinträchtigt, und nun vernahm Meghan, wie ihr die Stelle angeboten wurde, die sie sich so sehr wünschte.
Als unwillkürliche Reaktion durchfuhr sie sofort der Gedanke: Ich kann’s nicht abwarten, das Dad zu erzählen!
Dreißig Stockwerke weiter unten, in der Tiefgarage des PCD-Gebäudes, durchsuchte Bernie Heffernan, der Garagenwächter, in Tom Weickers Wagen das Handschuhfach. Dank einer genetischen Ironie waren Bernies Gesichtszüge dazu angetan, ihm den Ausdruck eines unbeschwerten Gemüts zu verleihen. Seine Wangen waren voll, sein Kinn und Mund klein, seine Augen groß und arglos, seine Haare voll und wuschelig, sein Körperbau war kräftig, wenn auch etwas rundlich. Mit seinen fünfunddreißig Jahren vermittelte er einem Beobachter den Eindruck, er sei ein Mensch, der einem einen platten Reifen wechseln würde, obwohl er gerade seinen besten Anzug anhatte.
Er wohnte noch bei seiner Mutter in dem schäbigen Haus in Jackson Heights, Queens, wo er geboren worden war. Von dort weg gewesen war er nur zu jenen düsteren, alptraumhaften Zeiten seiner Inhaftierung. Am Tag nach seinem zwölften Geburtstag wurde er zum ersten von einem Dutzend Malen in eine
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