Schwestern des Mondes 01 - Die Hexe-09.06.13
Kapitel 1
Seattle ist eigentlich fast das ganze Jahr über düster, aber der Oktober kann besonders scheußlich sein, was schlechtes Wetter angeht. Vom bleigrauen Himmel trommelte der Regen herab und schlug schräg gegen die Fenster, um in kleinen Sturzfluten am Glas hinabzuströmen. Auf dem Boden sammelte sich das Wasser zu großen Pfützen, wo sich Unkraut durch das gesprungene Pflaster geschoben hatte. Zum Glück lag der Eingang zum Indigo Crescent etwas erhöht an einer kleinen Rampe, hoch genug, so dass die Kunden den Laden trockenen Fußes betreten konnten. Sofern man nicht vom Rand abrutschte und mit einer Sandalette in der Pfütze landete, so wie ich es eben geschafft hatte.
Ich schüttelte den Regen ab, als ich meinen Laden betrat, und tippte den Code der Alarmanlage ein. Dank meiner Schwester Delilah sprang diese Anlage nicht nur bei einem Einbruch an, sie meldete auch Spione. Und dieses beruhigend sichere Gefühl konnten wir angesichts der Tatsache, wer wir waren und woher wir kamen, wirklich gebrauchen.
Mein Fuß erzeugte ein schmatzendes Geräusch, als ich auf den Zehn-Zentimeter-Absätzen zu meinem Lieblingsplatz hinüberhumpelte und aus einer Riemchensandalette schlüpfte. Während ich den Designerschuh trockentupfte, ging mir durch den Kopf, dass es manchmal recht günstig war, zur Hälfte Feenblut in sich zu tragen – Sidhe-Blut, um genau zu sein. Ich hatte kein Vermögen für diese Schuhe ausgeben müssen, sondern sie geschenkt bekommen, von meiner Ortsgruppe des Vereins der Feenfreunde, deren Mitglieder gern meine Buchhandlung besuchten.
Bei einem ihrer letzten Besuche hatten sie gesehen, wie ich in einem Katalog sehnsüchtig diese Schuhe bewundert hatte, und ein paar Tage später waren sie mit einer Einkaufstasche aufgetaucht. Natürlich hatte ich sehr genau überlegt, ob ich das Geschenk annehmen konnte... etwa dreißig Sekunden lang. Dann hatte die Begierde gesiegt, und ich hatte mich sehr liebenswürdig bei den Mitgliedern bedankt, während ich in die Schuhe schlüpfte, die perfekt passten, wie ich hinzufügen möchte.
Ich untersuchte die Sandalette und stellte fest, dass sie keinen dauerhaften Schaden genommen hatte. Nachdem ich mir die Füße abgetrocknet und sie wieder mit ihren Lieblingsabsätzen vereint hatte, holte ich mein Notizbuch hervor und überflog meine To-do-Liste. Es gab Bücher einzusortieren und Bestellungen aufzugeben, und ich hatte mich bereiterklärt, die Gastgeberin für das monatliche Treffen des Lesezirkels der Feenfreunde zu spielen. Sie würden sich gegen Mittag hier treffen. Delilah würde fast den ganzen Tag lang wegen eines Falles unterwegs sein, und meine andere Schwester Menolly schlief natürlich.
Also, an die Arbeit. Ich schaltete die Stereoanlage ein, und »Man in the Box« von Alice in Chains dröhnte durch den Laden. Später würde ich zu verkaufsfördernder Klassik wechseln, aber am frühen Vormittag, wenn die Buchhandlung leer und ich allein war, richtete ich mich ganz nach meinem Geschmack. Brav schnappte ich mir einen Karton neuer Taschenbücher, um sie in die Regale zu räumen, und sehnte mich danach, dass etwas Interessantes passieren möge... als die Klingel über der Tür bimmelte und Chase Johnson hereinplatzte. Nicht die Art interessanter Ablenkung, auf die ich gehofft hatte.
Chase faltete seinen Regenschirm zusammen und ließ ihn in den Schirmständer neben der Tür fallen. Während er sich aus seinem langen Trenchcoat schälte und ihn am Garderobenständer aufhängte, achtete ich darauf, den Blick auf das Buch zu richten, das ich gerade einsortierte. Toll – genau das Richtige, um mir den Tag zu versüßen. Dass die meisten Männer meine Schwester und mich bewunderten, war ja durchaus angenehm. Aber Chase gehörte nicht zu meinen Lieblingsmenschen; er schaffte es nicht einmal unter die Top Ten. Wahrscheinlich hatte ich deswegen Gefallen daran gefunden, ihn zu provozieren, wann immer ich Gelegenheit dazu hatte. Nett? Wohl nicht. Aber lustig? Auf jeden Fall!
»Ich brauche dich. Sofort, Camille!« Chase schnippte mit den Fingern und zeigte auf den Ladentisch.
Ich klimperte mit den Wimpern. »Was denn? Du willst mich vorher nicht mal zu einem romantischen Abendessen ausführen? Jetzt bin ich aber beleidigt. Du könntest wenigstens bitte sagen... «
»Zickig wie immer.« Chase verdrehte die Augen gen Himmel. »Und würdest du diesen Lärm abstellen?« Verächtlich schüttelte er den Kopf. »Da kommst du den ganzen weiten Weg aus der
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