Das Fremde Mädchen
den freigelegten Schieferplatten.
»Wie ich sehe, habt auch Ihr Eure Schwierigkeiten«, meinte Hugh.
»Wer kommt im Winter ungeschoren davon? Der Schnee hat mit seinem Gewicht die Platten verschoben, einige sogar zerbrochen, und hat sich einen Weg ins Haus gebahnt, um den Kaplan des Bischofs in seinem Bett zu taufen. Wenn wir es bis zum Tauwetter ließen, wie es ist, hätten wir einen viel größeren Schaden zu reparieren.«
»Und Euer Baumeister glaubt, er könne auch bei Frost gute Arbeit leisten.« Hugh hatte die braun gekleidete Gestalt auf halber Höhe der langen Leiter erkannt, die eine Trage voll Schieferplatten hochschleppte, mit der die meisten jüngeren Helfer überfordert gewesen wären. »Eine mühselige Arbeit ist es da oben«, sagte Hugh, während er die höchste Plattform des Gerüsts musterte. Dort oben war der Schiefer hoch aufgestapelt, und die beiden winzigen Gestalten bewegten sich vorsichtig auf dem ungeschützten Dach.
»Wir wechseln uns oft ab, und im Wärmeraum brennt für uns ein Feuer, wenn wir herunterkommen. Wir älteren sind von der Arbeit befreit, aber die meisten – außer den Kranken und Schwachen – tragen ihren Teil bei. Das ist nur gerecht, aber ich habe meine Zweifel, ob Conradin daran seine Freude hat. Es gefällt ihm nicht, wenn die närrischen jungen Brüder dort oben herumlaufen, und so bald wie möglich will er nur noch die einteilen, bei denen er sich sicher ist. Jedenfalls behält er sie genau im Auge, und sobald jemand dort droben blaß um die Nase wird, schickt er ihn auf die feste Erde hinunter. Das ist nicht jedermanns Sache.«
»Wart Ihr da oben?« fragte Hugh neugierig.
»Ich habe gestern meine Schicht geleistet, bevor die Dämmerung kam. Die kurzen Tage behindern uns, aber in einer Woche müßten wir fertig sein.«
Hugh kniff die Augen zusammen, als ein greller Sonnenstrahl vom kristallenen Weiß reflektiert wurde. »Wer sind die beiden da oben? Ist das nicht Bruder Urien? Der dunkle da? Aber wer ist der andere?«
»Das ist Bruder Haluin.« Die schmale, bewegliche Gestalt war hinter dem Vorsprung des Gerüsts kaum zu erkennen, aber Cadfael hatte eine Stunde vorher gesehen, wie die beiden die Leiter hinaufgestiegen waren.
»Was denn, Anselms bester Zeichner? Wie kann man einen solchen Künstler nur so mißhandeln? Er wird sich in der Kälte die Hände ruinieren, und nachdem er die Schieferplatten herumgewuchtet hat, wird er eine oder zwei Wochen keinen Pinsel mehr anfassen können.«
»Anselm wollte es ihm ausreden«, gab Cadfael zu, »aber Haluin ließ sich nicht beirren. Niemand hätte es ihm verübelt, weil jeder weiß, wie wichtig seine Arbeit ist, aber wenn irgendwo ein Büßerhemd frei herumliegt, dann wird Haluin es sofort für sich beanspruchen. Ein lebenslanger Büßer ist der Junge, Gott weiß für welche eingebildeten Sünden. Seit er als Novize eintrat, hat er meines Wissens noch nie eine Regel gebrochen. Er war kaum achtzehn, als er die ersten Gelübde ablegte, und ich glaube nicht, daß er vorher viel Zeit hatte, der Welt einen Schaden zuzufügen. Aber manche werden für ein Leben als Büßer geboren. Vielleicht nehmen sie die Bürde eines anderen auf sich, der sich damit zufriedengibt, daß wir Menschen und keine Engel sind. Wenn Haluins Bußfertigkeit und Frömmigkeit einen Teil meiner Verfehlungen wiedergutmacht, dann wird es ihm gut angerechnet werden, und auch ich habe nichts zu klagen.«
Es war zu kalt, um sich lange im tiefen Schnee aufzuhalten und die vorsichtigen Arbeiter auf dem Dach des Gästehauses zu beobachten. Sie wanderten weiter durch die Gärten, umrundeten die gefrorenen Teiche, in deren Eisdecke Bruder Simeon zackige Löcher geschlagen hatte, damit die Fische Luft bekamen, und überquerten den Mühlbach, der die Teiche speiste, auf der schmalen Holzbrücke, auf deren Planken eine dünne, glatte Eisschicht schimmerte. Als sie näher kamen, liefen sie unter den Balken des Gerüsts, die den Abflußkanal überragten, und konnten die Arbeiter auf dem Dach nicht mehr sehen.
»Er hat mir schon damals als Novize bei den Kräutern geholfen«, erklärte Cadfael, während sie sich einen Weg durch die verschneiten Beete des oberen Gartens bahnten und in den großen Hof traten. »Haluin, meine ich. Das war kurz nach dem Ende meines eigenen Noviziats. Ich war damals schon über vierzig, er war gerade achtzehn geworden. Sie schickten ihn zu mir, weil er lesen und Lateinisch konnte, während ich nach drei oder vier Jahren immer noch
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