Das Fuenfte Evangelium
Menschen gelebt, und es dauerte lange, bis ihre Zweifel zu Staunen und das Staunen endlich zur Überzeugung wurde, daß sie nicht geträumt, daß sie das alles wirklich erlebt hatte.
In langen, wachen Nächten hämmerte ein böses Echo in ihrem Hirn: Barabbas, Barabbas, Barabbas. Es tat weh wie ein dumpfer Kopfschmerz, und Anne war nahe daran zu verzweifeln. Sie ahnte, was kommen würde, sie war eine der wenigen, die das überhaupt ahnen konnte, aber sie konnte sich in keiner Weise vorstellen, wie diese Katastrophe – anders konnte man das Bevorstehende wohl nicht bezeichnen – vonstatten gehen würde. Einmal ertappte sie sich dabei, daß sie ein Stoßgebet zum Himmel schickte, es möge etwas ganz und gar Unerwartetes geschehen, etwas, das alles, was sich bisher ereignet hatte, auslöschte wie Regen, der ein Pflasterbild fortspült.
Natürlich war das unsinnig, denn man kann die Zukunft beeinflussen, nicht jedoch die Vergangenheit. Und so schmiedete Anne von Seydlitz Pläne, auf welche Weise sie an einem fernen Ort der drohenden Katastrophe entgehen könnte. Doch dann kam alles ganz anders.
Montag, 5. März 1962.
Flug ALITALIA 932 Rom – Amman. An Bord 76 Passagiere und acht Besatzungsmitglieder. In Reihe 8 auf den Plätzen A und B ein untersetzter Mann mit kahlem Schädel. Neben ihm seine gelähmte Frau. Eintrag in der Passagierliste: Donat, MR. und Donat, MRS. Die beiden waren durch einen Separatausgang vor den übrigen Passagieren an Bord gebracht worden. Mrs. Donat im Rollstuhl. Dem Steward war der Aktenkoffer aufgefallen, den die gelähmte Frau an ihr Handgelenk gekettet hatte.
In Reihe 6 auf Platz D ein dunkel gekleideter Herr mit kurzem grauen Haar. Das Revers seines Anzuges zierte ein fingernagelgroßes goldenes Kreuz. Eintrag in der Passagierliste: Manzoni, MR. Manzoni war erst in letzter Minute an Bord gekommen. Er hatte eine schwarze Reisetasche bei sich.
In kurzen Abständen drehte sich Manzoni während des Fluges um und blickte zu Donat und seiner gelähmten Frau. Die beiden sahen ihm provozierend ins Gesicht. Manzoni grinste unverschämt. Es schien, als fühlte sich jeder als Sieger über den anderen, die Donats über Manzoni, Manzoni über die Donats.
Nach 80 Minuten Flugzeit griff Manzoni in die schwarze Tasche. Er fingerte an irgend etwas herum. Donat sah noch, daß er die Hand aus der Tasche zog und lachend ein heftiges Kreuzzeichen schlug. Dann traf ihn ein greller Blitz. Eine Explosion. Das Flugzeug zerbarst in tausend Teile, 25.000 Fuß über Normalnull.
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N atürlich gibt es keine Zeugen für diese letzte Szene. Aber so oder so ähnlich könnte sie sich abgespielt haben.
Die italienische Nachrichtenagentur ANSA meldete am 5. März 1962: Rom: – Auf dem Flug von Rom nach Amman ist am heutigen Montag eine Passagiermaschine der italienischen Fluggesellschaft ALITALIA explodiert und ins Meer gestürzt. An Bord befanden sich 76 Passagiere und acht Besatzungsmitglieder. Die Absturzstelle liegt 60 Seemeilen südlich von Zypern, 90 Seemeilen westlich von Beirut, in einer der tiefsten Stellen des Mittelmeeres. Besatzungsmitglieder eines Zerstörers der Sechsten amerikanischen Flotte wollen beobachtet haben, wie das Flugzeug in der Luft explodierte. Die Einzelteile stürzten brennend ins Meer. Es gilt als sicher, daß keiner der 84 Insassen die Katastrophe überlebt hat. Über die Unfallursache gibt es vorläufig nur Spekulationen. Ein Sprecher der ALITALIA erklärte in Rom, man könne nicht ausschließen, daß die Explosion der Maschine durch eine Bombe ausgelöst wurde.
Nachsatz I
A m Donnerstag, dem 11. Oktober 1962, eröffnete Papst Johannes XXIII. in Rom das Zweite Vatikanische Konzil. Von 3.044 geladenen Konzilsvätern waren 2.540 anwesend, darunter 115 Mitglieder der Kurie. Von diesen 115 kannten nur etwa 30 den wahren Anlaß für diese erste globale Kirchenversammlung seit beinahe hundert Jahren.
Konzilien, das hat die Vergangenheit gezeigt, hatten immer einen wichtigen Grund und bedeutungsvolle Ergebnisse. Konzilien brachten die sogenannte Homousie hervor, die göttliche Wesensgleichheit des Sohnes mit dem Vater (Nicäa), sie beendeten die Kirchenspaltung (Konstanz) oder bescherten den Christenmenschen das Dogma der Erbsünde (Trient) oder der Unfehlbarkeit des Papstes (Vatikan I). Die Ergebnisse des Zweiten Vatikanischen Konzils erscheinen dagegen dürftig.
Dennoch wird das Zweite Vatikanische Konzil als Reformkonzil in die Geschichte eingehen, und natürlich wird das, wovon
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