Das Fuenfte Evangelium
Original, an einem sicheren Ort verwahrt –, die Macht besaß, die gesamte Welt zu verändern. Und nichts mehr würde sein, wie es war.
Sie hörte, wie hinter ihr die Tür aufging, und wandte sich um. Vor ihr stand Kleiber – der falsche Kleiber –, in der Hand einen Strauß orange-blauer Paradiesvogelblumen.
Anne trat einen Schritt auf ihn zu, ohne zu wissen, was sie damit zum Ausdruck bringen wollte. Sie war zutiefst verunsichert. So standen sie sich gegenüber, und jeder wartete verlegen auf ein Wort des anderen.
»Ich weiß nicht«, begann ›Kleiber‹ schließlich stockend, »soll ich mich entschuldigen? Was soll ich tun?«
»Wonach ist dir zumute?« fragte Anne mit einem schnippischen Unterton.
»Ich weiß es wirklich nicht«, erwiderte Kleiber ausweichend. »Mir ist natürlich bewußt, daß ich dich auf gemeine Weise betrogen habe.«
»Ach ja. Immerhin.«
»Aber ich habe dich nur mit meiner Identität betrogen, nicht mit meinen Gefühlen. Die waren echt. Von Anfang an.«
»Und du meinst, das kann man trennen?«
»Ich glaube ja.«
»Das mußt du mir erklären.«
»Ich will es versuchen. Also – ich heiße weder Adrian noch Kleiber, mein Name ist Stephan Oldenhoff. Aber wie Kleiber bin ich Journalist, freilich nicht so erfolgreich, einer, der mal hier mal dort eine Geschichte verkauft und froh ist, wenn er seine Miete bezahlen kann. Da nimmst du jeden Auftrag an, der Geld bringt. Eines Tages sprach mich ein Mann an und sagte, ich hätte verblüffende Ähnlichkeit mit einem anderen Journalisten, ob ich bereit sei, für eine große Summe in seine Rolle zu schlüpfen. Ich überlegte nicht lange und sagte, wenn es nichts Illegales sei, würde ich es tun – das Honorar war wirklich sehr anständig. Der Auftraggeber hieß Donat, und der Auftrag lautete, ich sollte mich in den Besitz des Pergaments bringen.
Dazu mußte sich Stephan Oldenhoff in Adrian Kleiber verwandeln. Äußerlich war das nicht allzu schwer, zumal wir ja wußten, daß deine letzte Begegnung mit Kleiber siebzehn Jahre zurücklag. Donat hatte gründlich recherchiert, wobei ihm seine Frau die wertvollsten Hinweise gab. Über Kleibers Gewohnheiten und Eigenheiten wußte niemand besser Bescheid als Hanna Luise Donat, seine Witwe. Er hatte sie nämlich geheiratet. Seither schickte er dir keine Blumen mehr zum Geburtstag.
Ich wußte genau Bescheid über deine Situation, und ich erhielt von den Fundamentalisten jede denkbare Unterstützung. Ich wußte aber auch, daß mir von den Orphikern große Gefahr drohte, vor allem von dem Augenblick an, in dem ich das Pergament in meinen Besitz gebracht hatte – oder genauer: von dem Augenblick an, da die Orphiker glaubten, ich hätte das Pergament in meinem Besitz. Deshalb kam mir die Idee, nach Amerika zu reisen, sehr gelegen. Dort fühlte ich mich sicher.«
Anne schüttelte den Kopf. Es fiel ihr schwer, Oldenhoffs Worten zu glauben. »Dann war«, meinte sie nach einer Zeit des Nachdenkens, »deine Entführung nach Leibethra auch nur gespielt!«
»Wo denkst du hin!« rief Oldenhoff entrüstet. »Das war bitterer Ernst. Als die Orphiker herausgefunden hatten, daß sich das Pergament nicht mehr bei dir befand, sondern daß ich es versteckt halten mußte, da kidnappten sie mich nach der Art sizilianischer Mafiosi. Ich weiß wirklich nicht, wie sie mich nach Leibethra gebracht und was sie mit mir angestellt haben, um das Versteck des Pergaments aus mir herauszupressen. Tatsache ist, daß ich dir mein Leben verdanke; denn wenn sie erfahren hätten, daß das Pergament längst in den Händen der Fundamentalisten war, hätten sie mich vermutlich totgeschlagen.«
Anne von Seydlitz sah dem falschen Kleiber ins Gesicht. Sie haßte diesen Menschen; jedoch nicht wie man einen Feind haßt oder einen Widersacher, Anne haßte Oldenhoff einzig und allein, weil er Oldenhoff war und nicht Kleiber. Aber dies war eine jener Arten von Haß, die leicht in Liebe umschlagen, und dieser Punkt war näher, als sie dachte.
8
S eit jener Begegnung in einem Hinterhaus in der Via Baullari war genau eine Woche vergangen. Anne von Seydlitz hatte sich zu einem Erholungsurlaub nach Capri zurückgezogen, um nachzudenken. Sie bewohnte eine Suite im sündhaft teuren Hotel Quisisana – das konnte sie sich leisten. Donat hatte ihr einen Scheck über eine Million Dollar ausgehändigt; aber trotz des vielen Geldes war Anne nicht glücklich. Ihr kam es so vor, als hätte sie in den vergangenen Monaten das Leben eines fremden
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