Das Fuenfte Evangelium
daß sie, wo immer sie auftauchte, stets gesellschaftlicher Mittelpunkt war. Wie alle, die nicht unter ihrer Klugheit leiden, sondern aus ihr Nutzen ziehen, besaß Anne Witz, und ihre Schelmereien wurden oft zum Tagesgespräch. Mit ihrem Alter von gerade vierzig Jahren kokettierte sie gerne, indem sie darauf hinwies, sie befinde sich nun im fünften Jahrzehnt.
Natürlich hatte sie der Tod ihres Mannes schwer getroffen, und sie begann gerade das Leid, das ihr unerwartet begegnet war, mit der Kraft ihres Verstandes zu verarbeiten, als die Klinik anrief, sie möge die letzten Habseligkeiten ihres Mannes abholen.
Obwohl es ihr nicht leichtfiel, kam Anne der Aufforderung noch am selben Tag nach. Eine Schwester übergab ihr gegen Quittung einen verschweißten Plastiksack, der neben Guidos Kleidungsstücken seine Uhr und Brieftasche enthielt. Dabei erfuhr sie eher beiläufig, daß Guido zur Zeit des Unfalles nicht allein im Auto gesessen habe. »Die Beifahrerin hat nur leichte Verletzungen davongetragen, man hat sie heute entlassen.«
»Beifahrerin?«
Anne von Seydlitz zog ihre Stirn in Falten, ein untrügliches Kennzeichen für ihre innere Erregtheit.
Die Schwester zeigte sich erstaunt, daß Frau von Seydlitz von der Beifahrerin nichts gewußt haben sollte, ja sie wurde sogar mißtrauisch und bat, bevor sie den Namen bekannt gab, den Oberarzt um Rat. Anne erkannte in ihm den Arzt, der ihr die Todesnachricht überbracht hatte, und sie hielt es für angebracht, sich für ihr Verhalten zu entschuldigen.
Der Doktor nannte ihr Verhalten in Anbetracht der Umstände nicht außergewöhnlich, er bezeichnete es sogar als ziemlich normal, dennoch gelang es Anne erst nach zähen Verhandlungen, Namen und Adresse der Beifahrerin ihres Mannes zu erfahren.
Sie kannte die Frau nicht. Es ging ihr zunächst auch nur darum, mehr über die Umstände des Unfalles zu erfahren.
Zu diesem Zweck setzte sie sich mit der Polizei in Verbindung. Dort erfuhr sie, daß der Wagen mit zwei Personen, einem Mann und einer Frau, besetzt gewesen sei, bei Kilometer 7,5 der Autobahn München–Berlin von der Fahrbahn abgekommen, sich mehrmals überschlagend über eine Böschung gestürzt und mit den Rädern nach oben liegengeblieben sei. Die Frau habe das Unglück offenbar nur deshalb überlebt, weil sie aus dem Fahrzeug geschleudert wurde. Zur Klärung der Unfallursache werde das Autowrack untersucht, aber das könne dauern.
Ob sie den Wagen sehen könne.
Natürlich, wenn sie sich das antun wolle.
Die Halle im Norden der Stadt bot Raum für zwei Dutzend Autowracks, und mindestens ebenso viele standen im Freien herum, zerbeulte, zerfetzte, verbrannte Automobile, die mit dem Schicksal irgendwelcher Menschen verbunden waren.
Obwohl sie sich vorgenommen hatte, kühl und gefaßt zu bleiben, begann Anne beim Anblick des Wracks am ganzen Körper zu zittern, und es dauerte eine ganze Weile, bis sie näher zu treten wagte. Das Armaturenbrett war in der Mitte eingeknickt. Auf der linken Seite sah man Blutspuren. Front- und Heckscheibe lagen zersplittert auf den zerbeulten Polstern. Von der Kühlerhaube war nur noch die Hälfte der normalen Länge zu erkennen. Die Kofferraumklappe stand offen, sie ließ sich nicht mehr schließen. Es roch nach Benzin und Öl und verbranntem Kunststoff.
Beinahe andächtig umrundete Anne das demolierte Fahrzeug, da fiel ihr Blick auf eine Aktentasche im Kofferraum. Der Polizeibeamte, der sie begleitete, nickte und meinte, sie könne sie an sich nehmen, und er angelte die Ledertasche hervor.
»Aber das ist nicht die Tasche meines Mannes!« rief Anne und trat einen Schritt zurück. Sie machte eine Bewegung, als habe der Mann ihr ein ekelerregendes Tier vor die Nase gehalten.
»Dann wird sie der Beifahrerin gehören«, meinte der Polizeibeamte beschwichtigend. Er verstand die Aufregung der Frau nicht.
»Aber wo ist der Aktenkoffer meines Mannes? Er hatte einen braunen Aktenkoffer bei sich mit seinem Monogramm G.v.S. auf der Oberseite!«
Der Polizist hob die Schultern. »Sind Sie sicher?«
»Ganz sicher«, erwiderte Anne, und nach einem Augenblick des Nachdenkens sagte sie: »Geben Sie her!«
Sie legte die Tasche auf das Dach des Unfallwagens, hantierte ungeübt an den Schlössern und öffnete den Deckel. Der Inhalt – Unterwäsche (nebenbei gesagt, nicht sehr feine), Kosmetika und Zigaretten – gehörte zweifellos der Frau.
»Darf ich ihn mitnehmen?« fragte Anne.
»Selbstverständlich.«
Sie klappte die Tasche zu und
Weitere Kostenlose Bücher