Das Fünfte Geheimnis
Baum, dessen Wurzeln bis in den Bauch der Erde hinunterreichten und von dort immer neue Lebenskraft bezog.
Energie pulsierte durch sie hindurch und durch ihre Hände in den Körper der Gebärenden, nährte sie, hielt sie am Leben. Für wie lange? Solange ich es aushalten kann, dachte Madrone und das konnte fast unbegrenzt sein, wenn ich nur ausgeruhter wäre, wenn ich nichts weiter wäre als ein Baum, ein Kanal.
Funken leuchteten vor ihrem inneren Auge auf. Madrone hatte eine Vision: Mutter und Kind kämpften verzweifelt an einem dunklen, brennend heißen Ort. Madrone tauschte in ihrer Imagination das Erdenfeuer gegen kühlendes Wasser, ließ es durch die Kranke hindurchfließen, immer tiefer reichend, immer tiefer schöpfend. Sie war so in ihre Gedanken und ihre Tätigkeit versunken, daß sie die Stimmen der anderen um sich herum gar nicht mehr wahrnahm. Doch ihre Anstrengungen waren erfolgslos. Es war als wollte man Wasser in einen zerstörten Kanal gießen.
Das Seelen-Licht der Kranken entzog sich ihrem Zugriff. Verzweifelt versuchte sie es zu halten. Aber sie spürte die Kraft schwinden.
»Sie hyperventiliert, Puls schwach!« warnte Lou.
Madrone unternahm einen letzten verzweifelten Versuch, nahm all ihre eigene Energie und richtete sie auf das Seelen-Licht der Kranken. Aber das Licht wurde schwächer und löste sich schließlich im Dunkel auf.
»Sie ist tot«, sagte Lou sanft.
»Holt das Baby«, sagte Madrone. »Wie weit war Consuelo? Fünfunddreißigste, sechsunddreißigste Woche?« Das Baby würde klein, aber lebensfähig sein, wenn sie sich beeilten. Warum taten sie nichts, bewegten sich nicht? Erst dann bemerkte sie, daß kein Laut über ihre Lippen gekommen war. Sie gab all ihre Energie in das Kind und hatte keine Energie mehr zum Sprechen. Sie versuchte es erneut. »Holt das Kind«.
»Madrone sagt etwas«, bemerkte Aviva.
»Was? Was ist los?« fragte Lou.
»Holt das Kind«, sagte Madrone noch einmal. Diesmal hörbar. Lou warf ihr einen raschen Blick zu und nickte.
Madrone kämpfte, nicht nur um das Leben des Kindes, auch um ihr eigenes Leben. Diosa, oh Göttin, sie war zu tief eingetaucht, sie war eigentlich viel zu müde dafür, zu schwach. Aber das Kind lebte, ach wenn sie die Verbindung doch nur halten könnte...
Plötzlich fühlte sie eine warme Hand in ihrem Nacken. Wärmende Lebenskraft, frisches Ch'i, flutete durch sie hindurch. Aviva war es, die ihr Rückhalt und neue Kraft gab, während Lou das Baby aus dem geöffneten Bauch der toten Mutter empor hob. Das kleine blutige Bündel gab einen schwachen Schrei von sich, doch es bewegte sich kaum.
»Es ist ein Mädchen«, sagte Aviva.
»Gib es mir«, Madrone nahm ihre Hände von den Schläfen der toten Mutter und öffnete ihr eigenes Hemd. Lou durchtrennte die Nabelschnur und gab ihr das Baby.. Madrone nahm das nasse und blutige Kind und bettete es zwischen ihre Brüste. Der kleine Körper fühlte sich heiß und fiebrig an. Madrone griff nach einem Eiswürfel und bearbeitete damit den kleinen Rücken. Wärme und Kühle gleichzeitig, Liebe und Milch, beide waren wichtig. Diosa, das Kleine brauchte so viel.
»Bist du okay?« fragte Lou.
Madrone nickte, obwohl sie sich krank und schwach fühlte. »Nein bleib«, sagte sie zu Aviva, die ihre Hände wegnehmen wollte: »Ich bin nicht okay!«
»Und das Baby?« fragte Lou.
»Es atmet allein«, antwortete Madrone. »Es ist klein und zu früh geboren, aber es könnte durchkommen. Laßt es mir noch einen Moment. Gleich könnt ihr es untersuchen und wiegen.«
»Tief atmen«, Aviva lächelte aufmunternd. Madrone atmete langsam ein, zwang ihren Körper, sich zu entspannen. Aber ihre Gedanken folgten nicht. Wer hat Milch? Wer könnte das Kind stillen?
»Es wäre sicherer, Freiwillige zu finden, die Milch abpumpen.«
»Wir wissen nicht, wie ansteckend die Krankheit der Mutter ist«, gab Lou zu bedenken.
»Aber wenn die Kleine gestillt werden könnte«, bemerkte Madrone zögernd, »wäre es hilfreich für sie.«
»Glaubst du wirklich, sie wird überleben?« fragte Aviva.
»Ich weiß es nicht. Wir wissen bisher zu wenig über dieses Fieber.«
»Ich glaube, meine Nachbarin würde sie nehmen«, sagte Aviva, »sie hat gerade ihr Baby verloren, und ihre Milch fließt noch. Und außerdem würde ich bei ihr Fieberanzeichen sofort bemerken.«
»Das wäre eine gute Lösung«, stimmte Lou zu.
»Warte«, sagte Madrone, als Lou Consuelos Augen schließen wollte. Sie warf einen letzten langen Blick auf das
Weitere Kostenlose Bücher