Das Fünfte Geheimnis
Mandalas in den Himmel, während sie den Strom erzeugten.
Jemand kam aus dem Eingang und winkte Maya zu. Endlich, Madrone. Ihre Art zu gehen und sich lebhaft zu bewegen, ließ in Maya sofort die Erinnerung an Johanna lebendig werden. Johanna hatte dieselbe Kleidung geliebt: großzügig fließende weitgeschnittene Hosen, elegant drapierte Blusen und Überwürfe, in denselben Farben, kastanienbraun, lila und tiefblau. Ansonsten glich Madrone Johanna jedoch nur wenig. Außer in jenem Hauch von Afrika im Haar und dem leichten Schokoladeton im Bronze ihrer Haut. Maya empfing sie mit geschürzten Lippen, die rechte Braue hochgezogen und wechselte den Korb mit den Opfergaben von der rechten auf die linke Seite. Ja, es hätte Johanna persönlich sein können, die ihr da entgegen kam. Maya erinnerte sich, diesen Gesichtsausdruck hatte bereits Johannas Mutter gehabt, die ihn wiederum von ihren Vorfahren hatte.
»Bist du zu Fuß heraufgekommen?« fragte Madrone.
»Meine Beine tragen mich noch.«
»Und du bist immer noch unvernünftig. Du weißt nur zu gut, daß ich dich niemals hätte allein gehen lassen.«
»Mich lassen? Wie kannst du glauben, du könntest mich zurückhalten?« wollte Maya wissen.
»Nun, zum einen wiege ich mehr als du!«
»Das besagt nicht viel. Ich bin zwar alt, aber zäh.«
»Hmh. Alte Nüsse sind am härtesten zu knacken.«
»Was willst du damit andeuten?«
»Nada, madrina. Nichts, Mütterchen. Nichts, gar nichts.«
Madrone sah Maya mit den Augen einer Heilerin und bewunderte sie. Die alte Frau konnte als »Weise Alte« gelten. Ein breiter Strohhut schützte sie vor der Sonne, weißes silbriges Haar, ihr Gesicht glich mit seinen unzähligen Runzeln einem Spinnennetz. Ihre Lippen bildeten eine dünne Linie, entschlossen und energisch, ihre Wangenknochen leicht viereckig, ihre braunen Augen noch immer klar und schimmernd. Sie trug ein langes, schwarzes Kleid und stützte sich auf ihren Stock mit dem silbernen Knauf. Sie wirkte tatsächlich zäh, mußte Madrone zugeben, oder besser gesagt, sie wirkte sehr vital. Erstaunlich, daß sie es zu einem solchen Alter gebracht hatte. Und dabei war sie hellwach im Kopf, mit Gedanken scharf wie Cheddarkäse.
»Was siehst du mich so an?« fragte Maya.
»Abuelita, du siehst großartig aus.«
»Hör auf, mich Abuelita zu nennen. Weder bin ich klein, noch bin ich deine Großmutter.«
»Ich spreche über meine Zuneigung zu dir. Das weißt du ganz genau. Und was uns beide betrifft. Mir fallen keine Worte ein, um das zu beschreiben.«
»Du kennst kein Wort für die Tochter des Kindes, das eine meiner Liebhaberinnen mit einem meiner Liebhaber in die Welt setzte, als ich ihnen den Rücken zukehrte?« Mayas Frage klang unschuldig. »Gibt es nicht irgendeinen spanischen Ausdruck dafür?«
»Laß es bei Madrina bewenden. Das steht für eine Menge Sünden. Bist du wirklich okay?«
»Mir geht es besser als dir. Wie lange hast du überhaupt geschlafen?
»Frag nicht.«
Mayas Stimme wurde sanfter. »Wie ist es gelaufen?«
»Wir haben Consuelo verloren.«
»Nein«, stieß Maya hervor.
»Wenn ich darüber jetzt spreche, muß ich weinen.« Maya legte ihre Hand auf Madrones Schulter. Dankbar preßte Madrone Mayas Hand an ihre Wange.
Ein langgezogener Ton aus einem Schneckenhorn war zu hören.
»Noch eine halbe Stunde«, sagte Maya. »Wohin willst du gehen?«
Die oberen Pfade des Hügels waren übersät mit Schreinen für Göttinnen und Götter und die Vorfahren. Einige waren kunstvoll gestaltet und bemalt, während andere nur aus einem Opferkorb unter einem Baum bestanden.
Eine unglaubliche Mischung alter Religionen, Götterverehrungen und Weltanschauungen vereinigten sich hier zu einem wahrhaft beeindruckenden Durcheinander. Doch es war ein sympathisches Durcheinander - es war alles bunt, chaotisch, so wie das Leben selbst.
Eine Pyramide aus Gedächtnissteinen auf einem grünen Hügel war der Erdgöttin gewidmet, die auch Gaia oder Tonantzin genannte wurde, oder ganz einfach Madre Tierra, Mutter Erde. Auch Kuan Yin hatte einen Schrein, ebenso Kali und Buddha und viele Bodhisattvas, zusammen mit Devis und Devas, afrikanischen Orishas, und keltischen Göttinnen und Göttern. Einige Schreine standen in Gruppen beieinander; die von Yoruba Oshun, einer afrikanischen Liebesgöttin und Göttin der Flüsse. Aphrodite und Astarte bildeten einen Halbkreis um eine freie Grasfläche, wo gerade eine zierliche junge Frau barfuß und nur wenig verschleiert einen Bauchtanz
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