Das Fünfte Geheimnis
vorführte. Weiter unterhalb des Hügels überblickte die Jungfrau von Guadeloupe die Stationen des Kreuzweges.
Hier oben wurde die Sonne bei ihrem Aufgang zur Winter-Sonnenwende begrüßt; der Shofar wurde geblasen, um das jüdische Neujahr anzukündigen; Gospels wurden am Ostermorgen gesungen, der Aufruf zum Beten erfolgte fünfmal am Tag, und rund um die Uhr waren hier Menschen in stiller Meditation anzutreffen.
»Laß uns zum Steinhügel gehen«, sagte Madrone, »ich habe einen Stein für Sandy mitgebracht.« Der Stein in ihrem Korb war hübsch eingebettet in Gemüse und Kräuter. Er trug Sandys Namen, den Geburtstag und den Todestag. SANDINO SHEN LOTUS BLACK DRAGON, geboren am 15. September 2019, gestorben am 23. Juni 2048. Sie würde den Stein auf der Gedächtnispyramide oben am Hügel ablegen. Die Pyramide wuchs mit besorgniserregender Geschwindigkeit.
Und das wäre dann alles, was von ihm, ihrem Freund, ihrem Liebhaber, Kameraden, Compañero, übrig bliebe; ein Stein von vielen auf einer Pyramide, die im Garten begrabene Asche und Erinnerungen. Kein Ritual der Welt konnte diesen tiefen Schmerz heilen.
Maya berührte sanft ihren Arm. »Sollen wir den Stein zusammen niederlegen oder willst du es lieber allein tun?«
»Komm mit mir.«
Maya nahm ihre Hand. »Dann gehen wir jetzt.«
Rund um den Hügel waren die Menschen in Bewegung, legten ebenfalls Steine nieder, brachten Früchte und Blumen für die Toten oder standen einfach in stillem Gedenken. Manche weinten und umarmten einander.
Madrone nahm den Stein aus ihrem Korb und hielt ihn einen Moment in ihrer Hand. Sie versuchte an Sandy zu denken, stattdessen erschien Bird. Er war geboren worden am Tag der Schnitterin; eigentlich hätten sie heute seinen Geburtstag feiern sollen. Er hatte immer wie ein Löwe gewirkt, aber er hatte fünf Planeten in seinem Sternzeichen, er war ein Skorpion. Wie alt wäre er jetzt geworden? Sie war 28 und er wäre jetzt 29. Bei der Göttin, sie waren so jung gewesen, damals vor zehn Jahren. Sie konnte sich an sein Gesicht in jener Nacht erinnern, als er fortging, an seine dunkle Haut, samtweich und heil, und an seinen Bart, den er gerade hatte wachsen lassen. Als Überfallkommando waren sie ausgezogen, er und Cleis und Zorah und Tom. Bird hatte sie gebeten, Maya zu grüßen.
»Ihr riskiert Euer Leben«, hatte sie ihm gesagt. Seine Augen hatten fest in die ihren geblickt. »Claro.« Aber beim Anblick ihres Gesichtes war er sanfter geworden. »Schon möglich.«
Das Verlangen, ihn anzuschreien, ihn einen Narren zu nennen, hatte heiß in ihr gebrannt, sie hatte sich verlassen gefühlt.
Aber ein Blick in seine Augen hatte sie verstehen lassen. Dieser Blick hatte sie erinnert an jene Nacht des Aufstandes, als er sich über seinen blutenden Vater gebeugt hatte, die schreiende Menschenmenge um sie herum, und die Polizisten, die auf sie eingeprügelt hatten. Sie waren noch Kinder gewesen, aber sie hatten damals zu viel an Grausamkeiten gesehen, und seitdem hatten sie sich beide zu alt gefühlt.
Plötzlich füllten sich ihre Augen mit Tränen. Ich sollte an Sandy denken, mich auf ihn konzentrieren. Ich flüchte vor dem neuen Schmerz, indem ich alte Wunden aufreiße. Es ist leichter, um Bird zu trauern, nach all diesen Jahren, als an Sandys Verlust zu denken oder an Consuelo oder an die, die noch sterben werden.
»Es tut mir so leid um Sandy«, sagte Maya.
»Ich muß an Bird denken«, gestand Madrone. »Heute wäre sein Geburtstag. Erinnerst du dich?«
»Das sollte ich wohl.« Maya lächelte. »Seine Geburt ist mir noch ganz gegenwärtig. Brigid gebar dieses Kind mit derselben Tatkraft, mit der sie alle Dinge tat. Vier Stunden von Anfang bis Ende. Ich war sogar pünktlich zum Ritual in jener Nacht. Unverständlich wie eine Tochter von mir so werden konnte.
»War es eine Hausgeburt?«
»Ja, und meine Freundin Alix war die Hebamme. Ich war dabei, Jamie, Birds Vater und auch Marley, der damals gerade drei geworden war. Brigid dachte, daß es ihm helfen könnte, sich an das neue Baby zu gewöhnen. Aber er zeigte viel mehr Interesse für die Trommel, die ich ihm vorspielte als für seinen neuen Bruder.«
»Marley war immer mehr an Trommeln interessiert als an Menschen«, erwiderte Madrone.
»Ja, er war ein ganz außergewöhnlicher Trommler« erinnerte Maya sich, »er konnte den Regen vom Himmel trommeln. Ich hatte so talentierte Enkelsöhne. Bird war ein Genie, egal, welches Instrument er spielte. Das sind keine Übertreibungen.
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