Das Fünfte Geheimnis
Das sind Tatsachen.«
»Stimmt. Ich liebte seine Stimme. Ich liebte seinen Gesang. Ich liebte ihn.« Madrone erinnerte sich. Sie liebte ihn seit jenemTag in San Francisco. Damals steckte ihr noch der Schock der Ereignisse auf Guadeloupe in den Knochen und der Tod der Mutter. »All die Fremden um mich herum machten mir Angst«, sann sie. »Sie waren fremd: Großmutter Johanna, Großvater Rio, Tante Maya, Bird schenkte mir seinen Lieblingsstein, flach und schwarz, und auf der Rückseite war ein weißer fossiler Abdruck.«
»Und er sah gut aus«, fuhr Maya fort. Beide Jungs hatten meine Augen und klare schokoladenfarbene Haut. Erinnerst du dich noch an Schokolade?«
»Manchmal hatten wir welche auf Guadeloupe«, antwortete Madrone.
»Überlebe deine Nachkommen nicht. Es macht keinen Spaß«, belehrte Maya sie. »Ich halte bloß durch bis Bird zurückkommt.«
»Dann mußt du wohl ewig leben, Madrina.«
»Nein.« Maya schüttelte ihren Kopf. »Er ist nicht tot. Wenn es so wäre, müßte ich es spüren. Egal, wir sind wegen Sandy hier. Sag' dein Gebet und leg' deinen Stein nieder.«
Verblühende Ringelblumen und welkende Chrysanthemen ragten aus den Hügeln. Es gab keine Friedhöfe in der Stadt. Der Boden war zu kostbar, und alle Menschen brachten ihre Gaben für die Toten hierher. Sandys Stein würde nicht allein liegen, sondern in Gesellschaft mit anderen. Die Toten würden sich zusammen an den Gaben erfreuen, so wie Lebende das Essen teilten. Zumindest würde Sandy auch im Tode nicht einsam sein.
»Was bringt es, sich an vergangenes Leben zu erinnern?« Madrone kniete nieder und legte den Stein auf die Nordseite des Haufens.
»Jiyi shi yongyuan bu mie de.« Sie murmelte die Wendungen, die Lou sie gründlich gelehrt hatte. Sandy hatte im Norden der Stadt gelebt. Die Leute dort sprachen Mandarin-Chinesisch als zweite Sprache und nicht Spanisch.
»Er war ein guter Mann, freundlich zu allen und feinfühlig. Sein Verlust hinterläßt eine große Lücke«, sagte Maya. Sie vermißte ihn, wie so viele andere. Aber den Kloß im Hals hatte sie wegen Madrone. Sie war noch zu jung, um all diese Verluste zu ertragen.
Maya konnte die Erde unter ihren Füßen spüren, lebendig wie ein schlagendes Herz. Oder spüre ich vielleicht nur meine eigenen schmerzenden Füße, dachte sie voll Selbstironie. Wie auch immer. Hier am Ort der Toten war es gut, sich an die Kraft zu erinnern, der sie ihr Leben gewidmet hatte, der lebendigen Kraft im Herzen aller Dinge, dem sich fortwährend drehenden Rad von Geburt, Wachstum, von Tod und Erneuerung. Diesen Ruf hatte Maya in der letzten Zeit häufiger gespürt. Ihr ganzes Leben lang war sie darum bemüht gewesen, diese Berufung in Worte zu fassen, den Ruf der Göttin.
Madrone wandte sich abrupt ab. Sie spürte plötzlich ein großes Bedürfnis, allein zu sein. »Ich werde Yemaya eine Gabe bringen«, sagte sie. Sie liebte diese Yoruba-Göttin der Meere am meisten von allen Orishas, den alten Göttinnen und Göttern, die mit den Sklaven auf den Schiffen von Afrika gekommen waren.
»Gib mir ein Glas Honig«, sagte Maya, »ich will meine Vorfahren provozieren.«
»Ich dachte, das heißt mit ihnen in Verbindung treten«, sagte Madrone verblüfft, während sie ein Glas Honig aus der Tiefe ihres Korbes hervorzog.
»Mit jüdischen Ahnen tritt man nicht in Verbindung, sie kvetchen. Das heißt, sie beschweren sich.«
»Das ist eines der wenigen jüdischen Worte, die ich kenne, Madrina.«
Maya ging hinüber zu der Stelle, wo eine kleine Gruppe um den jüdischen Schrein versammelt war; einen hellen, gefliesten und wetterbeständigen Bogenbau, unter den überhängenden Zweigen eines Granatapfelbaumes. Ein aus Stein geschaffenes Pult bildete die Unterlage für die Torah-Rolle, und eine junge Frau las etwas auf Hebräisch. Die Klänge trugen Maya zurück in ihre Kindheit, erinnerten sie an den Großvater, der morgens seine Gebete sprach, die streitenden Stimmen ihrer Mutter und ihres Vaters.
»Laß mich zufrieden, Betty!« konnte sie ihren Vater hören. »Ich hab dir schon gesagt, daß ich nicht in die Synagoge gehen werde, ich glaube nicht an diesen verdammten Gott!«
»Du gehst nicht für Gott - du gehst für ihn. Er ist ein alter Mann, Joe. Kannst du nicht einmal etwas in deinem Leben tun, um einen anderen glücklich zu machen?«
»Warum sollte ich? Würde er soetwas für mich tun? Würde er das kommunistische Manifest für mich lesen, um mich glücklich zu machen?«
»Er ist dein
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