Das Gedächtnis der Libellen
sagt er und zieht an seiner Zigarette. Nur um Ilja eine Zigarette halten zu sehen, dafür würde ich für eine Stunde nach New York reisen, wenn ich nur seine Hände, seine Mundwinkel, seine Fingerkuppen sehen und ein bisschen mit ihm reden könnte. Ilja ist mein Moskau und mein Rom und mein kleiner David. Durch seine Anwesenheit wird die farblose Welt farbig und hell. Ich rieche Farben, so, wie man das Meer riechen kann oder geschälte Orangen oder den prallen lebensschwangeren Herbst.
Natürlich würde Ilja sofort Silenzio rufen, wenn er mich all das reden hören würde. Er würde sagen, Unsinn, das bist alles nur du selbst. Und er hätte ja Recht, ich selbst würde als Erste das Wort Unsinn sagen, sogar schreien, wenn mir jemand solche Dinge sagen würde, wenn es irgendjemand wäre, nur nicht, wenn es Ilja täte. Aber mit Ilja fühlt sich ein Nachmittag im Kaffeehaus an wie eine Zugreise in irgendeinen Süden, der einem gerade gehört, weil einem alles gehört, wenn man liebt. In einem Zug darf man alles denken. Schon seit meiner ersten Zugfahrt ist es immer so gewesen. Das Denken wurde mit dem Rattern der Räder freier, bis das Geräusch und die Gedanken ineinander verschmolzen.
Im Zug darf man sich auch so oft wie man will den Lippenstift neu auftragen, auf die hohen Absätze schauen und sich vorstellen, wie gut das aussehen wird, wie lang die Beine wirken werden, wenn ich aus dem Zug steige und Ilja mich dann umarmt, die Beine bestaunt, meine enge schwarze Hose, den roten Angorapullover mit den aufgenähten schwarzen Blättern.
Die Blätter bestehen aus winzigen Perlen. Oberhalb meiner festen kleinen Brüste ergeben sie ein Kranzmuster. Während ich mir in Gedanken ausmale, wie das Gefühl sein wird, in Amsterdam aus dem Zug zu steigen, mit diesen hohen Schuhen Ilja entgegenzulaufen, wird zum wiederholten Male in meinem echten Zug an einer echten Grenze eine echte Durchsage gemacht. Nicht einmal den Namen des Ortes habe ich mir gemerkt. Weiter geht es mit dem Bus, es ist mitten in der Nacht, und ich habe nichts, woran ich mich festhalten kann. Den Koffer hat man mir an der Tür abgenommen.
Im Bus sagt eine Art Kapitän mit imposant blaugelber Mütze, dass wir in einem holländischen Städtchen in einen anderen Zug umsteigen müssen. Dieses Mal schwitze ich nicht aus Sehnsucht nach Ilja, sondern wenn ich an meine Schuhe denke, wegen der Mühe, die ich beim Laufen haben werde. Meine Gedanken verdichten sich, huschen wie Insekten durch meinen Kopf. Nach drei Minuten in den Schuhen und in meinem roten Angorapullover bin ich schon so nass geworden, dass ich den Eindruck erwecke, gänzlich dem Element Wasser anzugehören. Wenn mich meine Freundin Arjeta so gesehen hätte, wäre sie in lautes Lachen ausgebrochen. Den roten Angorapullover habe ich in Paris gekauft, damals, als Arjeta und ich dort zur gleichen Zeit gelebt haben.
Bei Sèvres-Babylone stiegen wir immer aus der Métro und trieben uns stundenlang auf dem Boulevard Raspail herum. Manchmal, wenn es im Winter kalt war, auch im vornehmen Kaufhaus Bonmarché, wo man uns schon an der Nasenspitze ansah, dass die paar Francs, die wir in unseren Taschen hatten, nicht einmal für einen Café crème in einem der guten Cafés reichten. Ganze Nachmittage verbrachten wir in den teueren Boutiquen, ohne je etwas zu kaufen. La nouvelle collection , wir kannten sie auswendig. Einmal, als ich nach einer solchen Reise durch die Welt der neuen Kleider den Boulevard Raspail überquerte, traf ich mitten auf der Straße den Schriftsteller Milan Kundera. Er blieb einen kurzen Augenblick lang stehen, sah meine roten Netzturnschuhe an, sie trugen den Namen no name , und er sagte, was für gute Schuhe du hast. Danke Herr Kundera, sagte ich, und er winkte mir noch auf eine Art nach, wie sich Leute in Filmen zuwinken. Ich glaube, er war glücklich, dass ich ihn erkannt habe. Er sah alt und freundlich aus und natürlich sehr eitel, wie auf den seltenen Bildern, die es noch von ihm gibt. Danach habe ich meine roten Turnschuhe wie eine Gottheit behandelt. Ich war nie vorher auf den Gedanken gekommen, dass sie etwas Besonderes sein könnten.
Ilja mag Kundera nicht, er glaubt ihm nicht. Ilja sagt, Kundera sei ein richtig schlechter Schriftsteller. Sogar sein bekanntestes Buch Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins kann Ilja nicht ausstehen. Aber in Wirklichkeit verübelt er es ihm, dass er seine Literatursprache gewechselt hat, dass er das Tschechische zugunsten des
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