Das Gedächtnis der Libellen
der anderen. Meine Tante hat meinen mathematischen Verstand gelobt. Und gesagt, dass manchmal weniger mehr ist. Ich habe mir damals, als die Zeit und das Warten ein und dasselbe für mich waren, immer vorgestellt, dass das Größere des Lebens die Liebe sein müsste. Etwas anderes hat mich bis heute nie still und erst recht nicht friedfertig gemacht. Ich stellte mir die Liebe als eine große körperlose Mutter vor, die der Sprache der Schmetterlinge genauso mächtig war wie jener der Lindenblätter, Meisenschnäbel und Elefantenrüssel, eine Mutter, die alles wusste, aber nichts gegen einen verwendete, die alles betrachtete und aus der Betrachtung Neues entstehen ließ, indem sie aus allem Lavendelblüten, Blüten jeder Art und Freundschaft, Freundschaft jeder Art machte, manchmal auch Honig, manchmal auch Wolken, die alles süß oder klar erscheinen ließen, je nachdem, was gerade und von wem es gebraucht wurde.
Vieles dachte ich mir aus, was es längst schon gab, und bildete mir ein, dass es nur aus mir herausgekommen war. Aber vielleicht musste ich mir so eine Art von Autorschaft auch nur vorstellen, um sie für mich Wahrheit werden zu lassen, für mich und für alle, die ich später traf. Vielleicht stellen wir uns alle das Leben vor und dann wird es so, wie es unserer Vorstellung entspricht. Nachträglich erschaffen wir Referenzen, Systeme und Rechtfertigungen für unsere Gefühle, Gedanken, Ideen, während die Wirklichkeit die Unterröcke der Zeit an sich reißt und an jeden Rock ein genaues Verfallsdatum heftet, ohne unsere Erfindungsgabe darüber zu informieren. Die Erlösung aus dem Verschlag der Vergänglichkeit wird uns nicht gewährt. Wir wünschen uns Dinge, die über uns hinausgehen, wir wünschen uns, dass die Liebe diese große Rolle in unserem Leben spielt, sonst, da wir alle nicht mehr glauben können, gäbe es keinen anderen guten, keinen richtigen Grund zu leben.
Die Liebe war vielleicht schon immer dieses Tor für das Leben, durch das uns die Religionen gelotst haben, nur dass hinter dem Tor niemand war, der uns an die Hand nahm. Vielmehr warteten hinter dem Tor Gesetze und Gesetzeshüter und Diktatoren. In der Liebe dient man nur. Diese Art Dienst ist freiwillig und macht schön. Wer einmal reflexartig gehorcht hat, der weiß, dass Gehorsam hässlich macht. Und doch hat die Liebe zu Ilja mich an die Grenze zu beidem gebracht. Ilja, den wollte ich für immer vergessen. Aber ich weiß nicht, wie man vergisst. Ich habe das nie gelernt. Und Ilja ist niemand, den man so einfach vergisst. Als er in mein Leben gekommen ist, habe ich begriffen, dass ich offenbar immer nur an das Geschenk der Güte geglaubt hatte. Aber jetzt sah ich, dass nicht alles von der Güte der anderen abhing, die eigenen Entscheidungen, die Art, wie man durch das Leben ging, sind mindestens genauso wichtig wie die Freundschaft, die einem zuteil wird. Ich stellte mir mein Dasein als ein Tor vor. Wenn ich nicht hindurchginge, würde ich in dieser Trauer versinken, die Iljas Abwesenheit erzeugte. Weitergehen, sagte ich mir, du musst weitergehen. An dieser Stelle zu bleiben, das kann dich das Leben kosten. Es gibt zwar keinen wilden Hund hinter dem Tor, kein Gebell. Aber für mich ist der Höllenhund in diesen liebesfernen Zeiten das Unbekannte, die Geheimnisse des Alphabets, die zersetzten Zungen, unter denen wilde Sprachen wohnen. Deine eigene vergrabene Sprache, deine eigenen am Gaumen zurechtgerückten Wunden. Das Verschwinden ist besser, es bringt gleich das Absterben mit sich. Wenn du liebst, dann musst du bereit sein, in dir selbst abzusterben. Haut abwerfen, so hat es Arjeta immer wieder zu mir gesagt, Haut abwerfen, so hat sie die Verwandlung genannt. Arjeta kennt sich mit dem Tod aus, das sagt sie selbst über sich, sogar ohne Aufforderung.
Arjeta war aus Sarajevo nach Paris gekommen. Sie hatte alles gesehen, was man in einer belagerten Stadt sehen kann, ihren Vater verloren und ihre beiden kleinen Brüder auch. Der Jüngere starb ohne Beine in ihren Armen. Eine Granate hatte sie von den Zehen her weggeschossen. Die Mutter blieb am Leben. Arjeta weinte nicht, wenn sie mir solche Dinge erzählte. Aber ihre Stimme wurde uferlos, und mir stockte der Atem, als sie sagte, man wisse erst nach so einem Granatengeräusch, wie schön Menschenfüße sind, wie weich die Zehen, die kleinen und die großen. Alles, was Arjeta sagte, stimmte mit ihrer Geschichte überein, und ein Satz wie der über die Kinderzehen ließ mir das Blut
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