Das Gedächtnis der Libellen
Wissenschaftler besonders anfällig für das Schicksal, sagte meine Freundin Arjeta, als ich ihr davon erzählte, weil sie es so lange in ihrem Denken ausblenden und es sie deshalb hinterrücks überfällt. Ob mit oder ohne Wissenschaft, es gibt Dinge, sagte ich mir, die sind beschlossen, vereinbart, besiegelt. Und ich kann sie nicht umschiffen, ich kann sie nur leben. Du bist verrückt, sagte Arjeta, man kann alles umschiffen, das Schicksal gibt es nicht. Aber doch, für mich schon, sagte ich, aus dem ganz einfachen Grund, weil mir Ilja und sein Muttermal oberhalb seines linken Mundwinkels wie versprochen vorkommen, sie sehen aus wie etwas, das man mir in der Kindheit schon in Aussicht gestellt hat, wie Schokolade und Orangenbonbons in einem, auf die ich seit dieser Zeit mit der Beharrlichkeit einer Priesterin warte. Außerdem ist er im gleichen Jahr wie ich zur Welt gekommen. Arjeta sah mich verschmitzt an. Aber die Quersumme eures Geburtsjahres ergibt eine Vierzehn, das bringt kein Glück, sagte Arjeta. Doch, sagte ich, jede Zahl bringt Glück.
Das Glück kam mir unverdächtig vor, nichts natürlicher als Ilja im Denken zu erobern. Ich merkte gar nicht, dass ich dem Denken den Platz der Berührungen übergab, überzeugt davon, jemanden getroffen zu haben, für den aus der Rückschau auch der scheinbar sinnloseste Lebensschritt Sinn machte, sich fügte, jeden Umweg, jeden Schmerz, jede Ohrfeige erklärte, auch das schreckliche Album, in das mein Vater immer die getöteten Libellen fein säuberlich ablegte. Aber kann es eine Wahrheit aus der Rückschau geben? Oder ist nicht jede Rückschau auch eine Erfindung der Wahrheit? Wer zurückschaut, versucht etwas zu finden, das es damals nicht gab und das er jetzt immer noch nicht hat, eben weil er es schon in der Vergangenheit nicht hatte, oder etwa nicht, sage ich zu Arjeta. Wer nicht im Jetzt lebt, der lebt gar nicht, sagt Arjeta zu mir, und wie alles, was sie in solchen Augenblicken sagt, hört sich auch das wie ein rezeptfreies Medikament an, das man einnehmen und an dem man gesund werden kann. Gab es je das Glück oder war das Libellentöten schon immer das Spezialgebiet meines Vaters? Ich kann es nicht wissen, aber nur aus der Rückschau vermag ich Fragen zu stellen. Eine Antwort habe ich nicht, aber dennoch Gewissheiten, eine davon ist, dass auch das Album Sinn machen würde, dass ich bereit bin, dieses Wissen auszuhalten, wenn Ilja wirklich mein Ilja ist und ich ihn also endlich gefunden habe.
Je länger Ilja in meinem Leben blieb, desto mehr wurde das Denken zu einem Wald. Die Vergangenheit, eine Verwandte der ersten Erdzeitalter. Du darin, eine kleine Grille, die allmählich mitten im Sommer ihre Stimme verliert und nach dem Verlust der Stimme langsam verschwindet, sich auflöst, im Nichts. Jetzt denkst du gar nicht mehr selbst, dachte ich, jetzt weißt du gar nichts über die Erdzeitalter zu sagen, nichts über Grillen, nichts über Stimmen, jetzt, du Dummkopf, denkt dich das Denken. Und wer bist du jetzt, wenn du ein Dummkopf bist, der gedacht wird vom Denken?
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Wer bin ich? Ich heiße Nadeshda. Meinen Namen habe ich nicht von Nadeshda Mandelstam. Und um es gleich klarzustellen, das ist noch viel wichtiger, von meinen Eltern habe ich meinen Namen auch nicht bekommen. Meine Eltern haben mir einen ganz anderen Namen gegeben. Es ist ein Name, der gar nicht zu mir passt. Ich selbst habe den neuen Namen für mich gefunden, damit ich diese Geschichte erzählen kann.
Meine Geschichte ist wie jede Geschichte nur eine Möglichkeit von vielen, ins Ungewisse meiner Biographie zu gehen. Nichts bleibt wie es ist. Das ist die Vergänglichkeit. Die Zeit ist eine Regisseurin. Sie hat Decken und Leuchten und Kleider und Nächte und Tage, einen Koffer voller Unterröcke. Die Zeit hat Menschen in ihrem Leib. Ich gehe oft auf Zehenspitzen aus der Zeit heraus. Wir alle haben andere Zehen, eine andere Art zu gehen, wir müssen weitergehen. Nur das Dazwischen ist unser beständiger Spiegel. Wie steht man in einem Spiegel? Wie steht man auf vor der Zeugenschaft des Spiegels?
Niemand wird uns für das Aufstehen am Morgen ein Ehrenmal errichten. Keiner, der aufsteht, zeigt dabei sein schönstes Gesicht. Wir brauchen die Lücken, um der Hässlichkeit zu entkommen, müssen satt werden an unseren unschönen Seiten, an unserer Bedeutungslosigkeit die Träume, diese alte Schmuggelware, vorbeischieben. Manchmal zähle ich die Unterröcke der Zeit, als sei ich schon Mutter vieler
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