Das Gedächtnis der Libellen
wissen, sie müssen sich gefährden und wieder neu lieben. Sie wissen, dass es kein Leben ohne die Liebe gibt und dass die Liebe der einzige gute Grund ist, weiter zu leben. Es gibt vielleicht überhaupt keinen anderen Grund, nur durch die Liebe wird alles wertvoll und alles schlecht. Die Liebe lehrt uns, wie wir alles sehen können, wie wir dem Leben vertrauen können, dem Regen, dem Schnee, dem Treiben der Flocken, wir wissen nicht, was am nächsten Tag geschehen wird, wir wissen nur heute, wer wir sind, und wir wissen es nur deshalb, weil wir uns immer wieder neu entscheiden, Liebende zu sein. Wer liebt, wird neu, immer wieder, und ist erstaunt über sich selbst, darüber, dass der Regen auf dem eigenen Gesicht nicht mehr wehtut, weil er einfach nur Regen ist und sich nicht mehr mit alten Tränen vermischt.
Dann gehst du plötzlich mit neuer Leichtigkeit durch fremde Städte, singst am Museumsquartier in Wien, während alle anderen Mützen und Schals tragen und sich vor dem Schneetreiben nach innen flüchten, in ein Kaffeehaus oder in ein Geschäft auf der Mariahilfer Straße, egal wohin. Und dir fällt ein Chanson von Serge Gainsbourg ein, du summst es … Mieux vaut ne penser à rien que de pas penser du tout, rien c’est déjà rien c’est déjà beaucoup. On se souvient de rien et puisqu’on oublie tout. Rien c’est bien mieux, rien. C’est bien mieux que tout.
Und dann singst du ein eigenes Lied, ein Lied, das dieses Buch ist, du singst es laut, im Schnee, die Flocken sind groß, ganz große Flocken, die auf deine Nase fallen, und du sagst zu dir selbst, jetzt, jetzt wirst du Ilja bald vergessen, du schaust nicht mehr nur in dich hinein, nicht mehr nur in die Erinnerung zurück, das denkst du, sondern du siehst alles, was hier draußen ist, das Licht am Morgen und dass die Kellnerin im Café Kafka ein Problem mit ihren Füßen hat, dass sie sonst hübsch und elegant angezogen ist, nur mit den Schuhen stimmt etwas nicht, es sind Gesundheitsschuhe. Vielleicht hat sie ein Kind geboren, so wie du Ezra geboren hast, oder sie hat sich vor kurzem einen Knöchel gebrochen, vielleicht war ihr Vater Analphabet und sie kann nur spärlich lesen, sicher gar keine Romane, vielleicht, vielleicht, so viele Dinge gibt es in der Welt zu sehen, sagst du dir, jetzt, so viele vielleicht, vielleicht, jetzt, da die Welt nicht mehr nur das Innen der Welt ist, jetzt bist du froh und lernst es, dieses Draußen zu lieben, du verstehst, dass auch das du selbst bist, dass du alles bist, was du siehst, alles, was nach Höhe strebt und in die Tiefe fällt, dass du dich niemals von den anderen trennen kannst, weder von dem stinkenden Bettler auf dem Kurfürstendamm noch von der Parfumverkäuferin bei Douglas – von nichts und niemand kannst du dich mehr trennen, die Luft verbindet dich mit allem, ob du es willst oder nicht. So wie deine Erinnerung dich mit deiner Geschichte und deine Gegenwart dich mit Arjeta verbindet, so verbindet dich die Luft mit dem schwarzen Taxifahrer in Chicago, der ein Loblied auf die Berliner singt und sie alle damn clever guys nennt, weil sie Barack Obama an der Siegessäule gefeiert haben, im Sommer, an einem warmen Sommertag, kurz bevor er der vierundvierzigste Präsident von Amerika geworden ist.
Die Arbeit an diesem Buch wurde vom Deutschen Literaturfonds, Darmstadt gefördert. Die Autorin dankt für das Stipendium.
Ebenso dankt sie dem Kunst: Raum Sylt Quelle für die Unterstützung an diesem Roman.
© 2010 Luchterhand Literaturverlag, München in der Verlagsgruppe Random House GmbH.
eISBN 978-3-641-04135-9
www.luchterhand-literaturverlag.de
www.randomhouse.de
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