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Das gefrorene Licht. Island-Krimi

Das gefrorene Licht. Island-Krimi

Titel: Das gefrorene Licht. Island-Krimi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yrsa Sigurðardóttir
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Frauen damit beschäftigt waren, die Menschheit zu vermehren. Die Schreie aus Kreißsaal C kamen ihr bekannt vor, und sie lauschte, in der Hoffnung, Babygeschrei zu hören. Aber sie konnte nichts Derartiges hören, zumal es für eine so kleine Lunge schwierig wäre, den Lärm der werdenden Mutter zu übertönen. Dóra konnte einen Satz zwischen dem Schreien verstehen:
»Das kann doch nicht richtig sein!«
Dóra stimmte Sigga im Geiste zu und lächelte. Offenbar war die Geburt in vollem Gang. Sie wartete mit dem Ohr an der Tür, und nach mehrmaligem lauten Stöhnen und weiteren Schreien war das herzzerreißende Weinen eines Babys zu hören. Dóra schossen die Tränen in die Augen, und sie entfernte sich von der Tür. Von Gylfi war nichts zu hören gewesen. Dóra hoffte, dass er nicht ohnmächtig geworden war. Sie atmete auf, als sie seine Stimme hörte: »
Igitt, tu das weg!«
Dóra erschrak, beruhigte sich jedoch wieder, als sie Siggas Mutter sagen hörte:
»Stell dich nicht so an, Junge. Sie zeigt euch nur die Nachgeburt. Manche trocknen sie und machen daraus einen Lampenschirm.«
Dóra konnte nur hoffen, dass sie dieses Jahr keinen solchen Schirm zu Weihnachten bekäme.
    Die Tür ging auf, Gylfi kam heraus und fiel seiner Mutter um den Hals. Er glühte wie Sonnenschein auf der Heide. »Es war ekelhaft, aber ich bin Vater! Es ist ein Junge!«
    Dóra küsste ihn mehrmals auf beide Wangen. »Mein lieber, lieber Gylfi«, sagte sie zwischen den Küssen, »herzlichen Glückwunsch, mein lieber Junge. Ist er süß?«
    »Sieh ihn dir selbst an«, sagte er und ging wieder hinein.
    Dóra wollte nicht in den Raum platzen und steckte nur ihren Kopf durch die Tür. Undeutlich erkannte sie Sigga und die Hebamme am Ende der Geburtsliege, ganz gebannt von dem Baby im Arm der frischgebackenen Mutter.
    Wie hypnotisiert betrat Dóra den Raum. Sie war Oma. Nachdem sie ihren Enkel eine Weile betrachtet hatte, wurde sie von dem unerfindlichen Bedürfnis gepackt, zu Matthias ins Hotel zu fahren.

EPILOG
    SAMSTAG , 24 . JUNI 2006
    Dóra trat an das offene Grab. »Von der Erde bist du genommen, und zur Erde kehrst du zurück«, sagte sie leise und ließ die Erde aus ihrer Hand auf den kleinen Sarg rieseln. Sie bekreuzigte sich und trat zurück. Es nieselte auf die überschaubare Gruppe herab, die sich in der kleinen Kirche versammelt hatte und schweigend hinter dem Sarg über den Friedhof gegangen war. Dóra hatte auf dem kurzen Weg Láras Hand gehalten. Sie und ein älterer Mann schienen die Einzigen in der Gruppe zu sein, denen das Ganze naheging. Er sah furchtbar aus. Es war Magnús Baldvinsson. Er war zu Beginn der Messe erschienen und hatte sich leise ganz hinten in die Kirche gesetzt. Beim Leichenzug hatte er darauf geachtet, ein paar Schritte hinter den anderen zu gehen. Er krallte sich mit beiden Händen an seinem Hut fest und starrte auf den Boden, wann immer Dóra zu ihm hinübersah. Er tat ihr leid.
    Dóra verfolgte, wie der Pastor mit geschlossenen Augen eine Strophe aus einem alten Psalm aufsagte. Sie tat es ihm nach und hatte das Gefühl, dass Kristín der Vers gefallen hätte:
    Nun schließe ich die Augen,
oh, Gott, lass deine Gnade
mich schützen diese Nacht.
Ach, wenn du mich zu dir rufst,
lass deinen Engel wachen
über meinen Schlaf.
    Anschließend sang die Gruppe leise
Gleichwie die eine Blume
, und einer nach dem anderen nahm zum Abschluss den Segen des Pfarrers entgegen.
    Am Ende blieben nur noch drei übrig: Lára, Dóra und Magnús. Mit hängendem Kopf stand Magnús etwas abseits.
    »Komm«, flüsterte Lára. »Ich koche uns einen Kaffee.« Sie krallte ihre Hand in Dóras Arm. »Ich möchte dir den Brief zeigen. Hast du es eilig?«
    »Nein.« Sie verließen den Friedhof und Magnús Baldvinsson, der allein vor dem Grab seiner längst verstorbenen kleinen Tochter verharrte.
    Dóra lächelte im Stillen, als sie ein leises Kinderweinen aus der Lava neben dem Friedhof hörte. Der ungezogene Kater, dachte sie, aber dann fiel ihr ein, dass sie den besagten Kater gesehen hatte, als sie an Tunga vorbei zum Friedhof gefahren war. Er hätte in so kurzer Zeit niemals bis hierher laufen können. Das Weinen wurde immer klagender, und Dóra verstärkte ihren Griff um das schmale, zerbrechliche Handgelenk der alten Frau. »Sollen wir ein bisschen schneller gehen?«, fragte sie. »Mir ist irgendwie unheimlich.«

Impressum
    Covergestaltung: bürosüd, München
    Abbildung: bürosüd
    Das Original erschien 2006 unter dem Titel ›Sér

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