Das geheime Bild
Anwesenden überprüften ihre Mobiltelefone auf Nachrichten und sprangen hoch, um aus den Fenstern zu spähen. Ein oder zwei zogen Arbeitshefte aus ihren Taschen und begannen zu korrigieren. Andere stellten sich grüppchenweise zusammen, flüsterten und zuckten ratlos mit den Achseln. Emily Fleming biss sich auf die Lippe und fixierte den Stuhl, auf den sich mein Vater setzen würde, wenn er hereinkam. Emily war die junge Neuseeländerin, die Dad eingestellt hatte und die von den Schülern Gappy genannt wurde: eine Schulabsolventin, die in ihrem Gap Year zwischen Schule und Universität ein Jahr lang erste Berufserfahrungen sammeln wollte. Gappys halfen bei den Sportstunden und den Aktivitäten, die nach dem Unterricht stattfanden. Für gewöhnlich waren es fröhliche, sportliche junge Männer und Frauen mit einer sentimentalen Affinität zu den Kricket-Pitches und Tennisplätzen, die sie gerade erst verlassen hatten. Emily Fleming jedoch sah wie ein Mädchen aus, das sich lieber drinnen aufhielt. Heute Nachmittag hatte sie einen Fuß um ihr anderes Bein geschlungen, biss sich auf die Lippe und drückte sich ihren Becher Tee an die Brust. Ihr langes hellbraunes Haar fiel übers Gesicht und verbarg ihre Züge. Sie war erst seit wenigen Wochen in England. Lehrerkonferenzen waren Neuland für sie. Alles war neu für sie. Weiß Gott, was sie sich angesichts der Polizeiautos zusammenreimte. Sie war so blass wie der weiße Becher in ihren Händen.
»Ist euch aufgefallen«, meinte Deidre Hamilton, die für den Sprachunterricht verantwortliche Lehrkraft, hinter vorgehaltener Hand flüsternd zu Simon und mir, »dass die Polizei gar nichts mitgenommen hat? Keine Leiche oder sonst was?« Ihre Augen funkelten.
Ich hatte mit keinem über den Inhalt des Pappkartons gesprochen und die Kinder, die sich vor Simons Klassenraum versammelt hatten, angewiesen, zu einer vorzeitigen Pause sofort nach draußen zu gehen. Eins oder zwei trödelten, weil sie sich offenbar nicht von der Aufregung trennen wollten, ihnen hatte ich mit schlechten Noten gedroht. Dann hatte ich mich sofort auf die Suche nach meinem Vater gemacht, den ich in der Eingangshalle abfangen konnte, wo er sich gerade von einer Gruppe Eltern verabschiedete, die ihren Rundgang durch die Schule beendet hatten. Er hörte sich a n, was ich ihm zu sagen hatte, wobei nur ein nervöses Zucken an seiner Schläfe seine Besorgnis verriet, und bestand dara uf, die Polizei selbst anzurufen. Während wir uns unterhielten, war Emily Fleming aus dem Garten hereingekommen. Sie riss die Augen auf, als sie sah, wie er die Treppe hinaufeilte, um zu telefonieren. Dad hatte nie ein Mobiltelefon bei sich. »Ist alles in Ordnung?«, hatte sie mich gefragt. »Hat es einen Unfall gegeben?« Ihre Stimme bebte ein wenig.
»Wir haben … etwas in Simons Unterrichtsraum gefunden«, teilte ich ihr mit.
»Was denn?« Sie biss sich auf ihre Unterlippe.
»Ich sage jetzt lieber nichts weiter. Es findet sicherlich später eine Lehrerkonferenz statt.« Auf meinem Weg nach oben spürte ich ihre Blicke in meinem Rücken und wollte mich fast umdrehen, um sie zu fragen, ob mit ihr alles in Ordnung war. Aber Simon wartete auf mich.
Die Schüler aus Simons gestörter Geschichtsstunde könnten ihren Freunden gegenüber ausgeplaudert haben, was los war. Es wurden viele SMS geschrieben, man twitterte und postete etwas auf Facebook. Sie hatten auch mit Sicherheit die Polizeiwagen gesehen, die draußen anhielten. Vielleicht wusste Deidre auch schon von der kleinen Leiche im Karton.
»Bist du dir sicher?«, fragte ich Deidre. »Vielleicht haben sie es bereits weggebracht … was immer es auch war.« Ich versuchte mich daran zu erinnern, wie man solche Dinge in Fernsehdramen handhabte. Mein Ehemann Hugh hatte ein Faible für Leichenhallen auf dem Bildschirm. Er hätte sich ausgekannt und gewusst, wie das Prozedere ablief.
»Ich bin mir sicher.« Sie näherte sich unseren Köpfen. »Und ich habe auch keinen Pathologen, oder wer auch immer für so was zuständig ist, gesehen.«
»Hast wohl am Fenster geklebt, Deidre?«, meinte Simon tadelnd. »Du bist schlimmer als die Kinder. Du hast zu viele gerichtsmedizinische Serien gesehen.« Seine Stimme klang jovial, aber eine Spur von Anspannung war nicht zu überhören.
Was mochte sich jetzt wohl in den Internatsgebäuden abspielen? Die meisten der Schüler hier waren externe, aber ein paar wohnten wochen- oder trimesterweise bei uns. Die Schüler der Abschlussklasse
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