Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das geheime Kind

Das geheime Kind

Titel: Das geheime Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Kastura
Vom Netzwerk:
STERBEN. BEGRABEN werden. Die Glieder strecken. Den dünnen Arm an die Brust führen. Den fremden Tod umschlingen. Ein letztes Mal die Haut zwischen den Fingern fühlen. Die Augen schließen. Nie mehr atmen.
    Die Vorstellung, sich zu verlieren. Einen Teil davon, die Hülle, all das Störende, Begrenzende, den Abglanz. Wird es ein langer Schmerz sein?
    Sich unerreichbar zu machen. Unfindbar. Anders werden, vergessen. Sind da Gedanken, die es lohnt mitzunehmen? Ist das möglich?
    Was lässt sich vor dem Abgrund noch bewahren?
     
    BEIM SCHACH mochte Nicolas die Figuren. Ihre Verschiedenheit.
    Das Pferdchen und der Turm sahen wie naturgetreue Nachbildungen aus. Die anderen ließen mehr Raum für seine Phantasie.
    Am liebsten war ihm die Dame. Sie lag gut in der Hand, ihre Krone fühlte sich wie ein Zahnrad an, nur dass die Zacken abgerundet waren. Aber warum hatte der König ein Kreuz auf dem Kopf? Und der Läufer mit diesem Schlitz, sollte das ein Helm sein oder ein Gesicht?
    Von den Bauern gab es viele. Er hatte sie zur Unterscheidung mit Filzstift markiert, eins bis acht. Bauern hatten keinen hohen Wert. Angeblich waren sie nicht so wichtig. Sie durften nicht so weit ziehen und wurden schnell geschlagen – nach den Regeln, die normalerweise galten.
    Das mit dem Ziehen war verwirrend. Vor, zurück, quer. Mal weiter, mal kürzer. Wo die Felder aufhörten, war Schluss. Warum eigentlich? Und warum bewegte sich ein Turm überhaupt? Das war doch ein Gebäude und gar keine Figur.
    Nicolas spielte Schach nach seinen eigenen Regeln. Es gab drei Varianten:
    I. Schule. Die Bauern waren die Schüler und die höheren Figuren die Lehrer. Der schwarze König war zum Beispiel der Religionslehrer, klar. Bei dem weißen König hatten sie Bio. Jede Felderreihe stand für ein anderes Schulfach. Pro Feld wurde eine Frage gestellt. Bei der richtigen Antwort durfte man vorrücken. Hin und wieder griff ein Schüler einen Lehrer beim Abfragen an, dann flog er vom Brett. Obwohl Bauer Nummer 3 die Antwort meistens wusste, flog er oft vom Brett. Das kam daher, weil er leicht die Beherrschung verlor, über seine Fäuste. Bauer Nummer 3 war er selbst, Nicolas.
    II. Einkaufen. Bauer Nummer 3 ging zusammen mit dem weißen Springer in den Supermarkt. Auf den Feldern der anderen Figuren gab es allerlei Waren, Wurst, Käse oder Getränke. Bauer Nummer 3 zählte auf, welche Waren er mitnehmen wollte. Pro Feld nannte er den genauen Preis. Am Ende rechnete er alles im Kopf zusammen und schlug noch die Steuerprozente drauf. Mit Zahlen konnte er gut umgehen. Der weiße Springer kontrollierte das Ergebnis. Das war Otto.
    Otto lebte mit der Mama von Bauer Nummer 3 zusammen und spielte mit ihm, wenn sie auf der Arbeit war. Otto hatte keine Arbeit. Er kümmerte sich um Bauer Nummer 3, der ja auch keine richtige Arbeit hatte, weil er noch zur Schule ging. Otto war also sein »Kollege«, und so redete er ihn immer an. Otto sah ein bisschen aus wie ein Pferd, weil er ein schmales Gesicht hatte und lange Zähne. Einkaufen machte am meisten Spaß, denn Bauer Nummer 3 wusste alle Preise auswendig. Aus der Zeitung kannte er sogar die Sonderangebote.
    III. Krieg. Diese Variante ähnelte mehr einer richtigen Schachpartie. Es galten die normalen Regeln mit dem Unterschied, dass die weißen Bauern auf den Feldern der schwarzen Bauern aufgebaut wurden und umgekehrt. Weiß durfte dann mit den schwarzen Bauern ziehen und Schwarz mit den weißen. Ziel des Spiels war, alle Bauern der eigenen Farbe zu schlagen. Schlagen bedeutete in diesem Fall jedoch »Befreien«. Die Bauern standen für Geiseln oder menschliche Schutzschilde, wie Otto es nannte. Das war natürlich Quatsch, im Krieg wurde niemand befreit. Nicolas sagte lieber »Zurückerobern« dazu, letztlich lief es auf dasselbe hinaus.
    Wegen der vertauschten Bauernfarbe fand er diese Spielvariante ziemlich kompliziert. Doch Otto meinte, das sei eine gute Übung. Man musste sich seiner Sache erst sicher sein, bevor man jemanden schlug und am Ende lebensgefährlich verletzte.
    Gerade waren sie wieder Einkaufen.
    »Hundert Gramm Hinterschinken«, sagte der weiße Springer.
    »Eins neunundfünfzig«, sagte Bauer Nummer 3.
    »Darf’s auch etwas mehr sein?«
    »Nein. Hundert Gramm reichen.« Nicolas hatte heute keine Lust auf Abweichungen. Er war noch durcheinander von gestern. Etwas war geschehen, worüber er unbedingt mit Otto reden musste. Aber das war um einiges schwieriger als Preise zusammenzuzählen.
    Das Telefon

Weitere Kostenlose Bücher