Das Wahre Kreuz
Prolog
I ch bin kein Verräter und kein Dieb, jedenfalls nicht in meinen Augen, nicht in denen der Abnaa Al Salieb und, dessen bin ich gewiß, auch nicht vor Gott.
Was ich tat, geschah in bester Absicht, vor mehr als sechshundert Jahren genauso wie heute. Die Stimme des Herrn leitete mich. Solange es Menschen gibt, die in die Häuser, Städte und Länder anderer eindringen, um ihnen fremde Gesetze, fremde Ansichten und einen fremden Glauben aufzuzwingen, kann das Kreuz Jesu zu einer mächtigen, Tod und Verderben bringenden Waffe werden. Deshalb beschloß ich, es vor der Welt zu verbergen. Ich schreibe meine Geschichte nieder, damit die Nachwelt versteht, was ich tat und was mich antrieb, damals, als ich in das geheimnisvolle, aber auch gefährliche Morgenland kam. Als ich, der einfache Zeichner Bastien Topart, vor vielen Jahren zum ersten Mal den Fuß auf ägyptischen Boden setzte, ahnte ich nicht, welche Abenteuer mich erwarteten. Hätte jemand es mir sagen wollen, ich hätte ihn ausgelacht.
Und hätte ich es nicht am eigenen Leibe erfahren, ich würde es auch heute nicht glauben. Wer also Zweifel hegt an meinen Worten, kann sich meines Verständnisses sicher sein. Aber es hat sich so zugetragen, wie ich es schildere, in jenen stürmischen Jahren nach der Französischen Revolution. Ende des 18. Jahrhunderts hatte das revolutionäre Frankreich seine Stellung in Europa weitgehend gefestigt. Der sogenannte Erste Koalitionskrieg war beendet, Frankreichs Feinde waren besiegt oder hatten Frieden geschlossen. Bis auf die Engländer, die, geschützt durch ihre mächtige Flotte, unangreifbar auf ihrer Insel saßen.
Da faßte der junge General Bonaparte, der binnen weniger Jahre vom einfachen Artillerieoffizier zu einem der mächtigsten Männer Frankreichs aufgestiegen war, im Jahr 1798 einen verwegenen Plan. Er wollte England schwächen, indem er den englischen Handel im Nahen Osten und in Indien störte. Beginnen wollte er diesen Feldzug in Ägypten. Mit fast vierzigtausend Soldaten stach er in See. Bei ihm waren aber auch Land-vermesser, Kartographen, Ingenieure, Archäologen, Mineralogen, Architekten, Chemiker, Botaniker, Ast-ronomen, Maler, Komponisten, Schriftsteller, Zeichner.
Und einer von ihnen war ich …
TEIL I
1. KAPITEL
Der Tempel
ie Bestie, halb Löwe und halb Adler, starrte uns D aus großen, dunklen Augen an. Wie zum Sprung bereit, jede Sehne in dem gewaltigen Leib gespannt, kauerte sie vor der Felswand, vier- oder fünfmal so groß wie ein Mensch. Die Schwingen waren halb ausgebreitet, als sollten sie dem Sprung zusätzliche Kraft verleihen. Ein Löwe mit Flügeln wäre schon seltsam genug gewesen, aber das Ungewöhnlichste war der Kopf: Er trug fast menschliche Züge, und gerade das wirkte unheimlich.
Alt und erhaben, wachsam und furchteinflößend zugleich war das geflügelte Untier, das über den brüchigen Säulen thronte. Wie viele Jahrhunderte, Jahrtausende vielleicht, es diesen seltsamen Ort schon beschützte, wußte ich nicht, aber es schien von seiner abschrecken-den Wirkung nichts eingebüßt zu haben. Abul, unser einheimischer Führer, hielt den Kopf gesenkt und wagte es kaum, zu der mächtigen Gestalt hinüberzusehen. Der knochige Alte, den wir in Kairo angeheuert hatten, schien froh darüber zu sein, daß er mit der Aufsicht über unsere Tiere und unsere Ausrüstung betraut und somit nicht verpflichtet war, sich dem monströsen Wesen zu nähern.
Mein Onkel trat schmunzelnd an mich heran. »Der alte Abul fühlt sich hier nicht besonders wohl.«
»Sie scheint das zu amüsieren, Onkel«, sagte ich, ohne in meiner Arbeit innezuhalten. Mein Bleistift wanderte über den großen Bogen Papier und schuf ein getreues Abbild des alten Tempels.
Mein Onkel nickte nachdenklich. »Abuls Furcht dürfte ein gutes Zeichen sein. Schon der Wirt in Kairo, der mir von diesem Tempel erzählt hat, erwähnte einen alten Aberglauben, demzufolge es tödlich enden kann, den Tempel zu betreten. Ich bin äußerst gespannt, was wir darin finden. Und du, Bastien, wirst unsere Entdek-kung mit deiner Zeichenkunst für das Institut festhalten.«
Er meinte das Institut von Ägypten, das General Bonaparte nach der Einnahme Kairos gegründet hatte, um dieses alte, fremde Land, in das unsere ruhmreiche Re-volutionsarmee vorgedrungen war, wissenschaftlich zu erfassen. Mitnichten war Napoleon Bonaparte jener blindwütige Eroberer, als den seine Feinde jenseits der Grenzen Frankreichs ihn so oft hinstellten. Sein Interesse
Weitere Kostenlose Bücher