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Das geheime Prinzip der Liebe

Das geheime Prinzip der Liebe

Titel: Das geheime Prinzip der Liebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hélène Grémillon
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mich retten …
    Am nächsten Sonntag schien es mir ausgeschlossen, wieder zur Messe zu gehen. Diesmal würde der Tod mich nicht verfehlen, davon war ich überzeugt. Als ich mich dann aber auf der Bank wiederfand, die ich mit meiner Familie jeden Sonntag einnahm, war das befürchtete Unwohlsein nicht zu spüren. Im Gegenteil, mich überkam ein gewisses Wohlbehagen, erfreut fand ich den einzigartigen Holzgeruch der
Kirche wieder, alles war an seinem Platz. Mein Blick hatte seinen Sockel wiedergefunden, er stützte sich auf Annie, auf ihr Haar, denn ihr Gesicht sah ich nicht. Plötzlich verstand ich es: Ihre Abwesenheit hatte mich am letzten Sonntag in diesen schrecklichen Zustand versetzt. Sicher hatte sie mit einem feuchten Tuch auf der Stirn, um die Krämpfe zu dämpfen, zu Hause gelegen oder gemalt, weil ihr jede Anstrengung verboten war. Annie litt an schweren Asthmaanfällen, um die wir sie alle beneideten, weil sie sie von unangenehmen Dingen befreiten. Ihre Gestalt, ihr leises Hüsteln schenkte allem, was mich umgab, Vollständigkeit und Zusammenhalt zurück. Dann begann sie zu singen. Sie war kein fröhlicher Mensch, und ich staunte jedes Mal, wie ihr ganzer Körper auflebte, sobald die Orgel ertönte. Ich wusste noch nicht, dass der Gesang dem Lachen gleicht und dass man alles in ihn hineinlegen kann, sogar die Melancholie.

    Die meisten Menschen verlieben sich in eine Person, wenn sie sie sehen. Mich hatte die Liebe hinterrücks überfallen: Annie war nicht dabei, als sie an jenem Sonntag in meinem Leben Einzug hielt. Ich war zwölf, Annie zwei Jahre jünger, zwei Jahre minus ein paar Tage.
    Ich habe sie geliebt, wie ein Kind liebt, das heißt im Beisein der anderen. Ich kam gar nicht auf den Gedanken, mit ihr allein zu sein, ich war noch nicht im Alter für die Zweisamkeit. Ich liebte, um zu lieben, nicht um geliebt zu werden. Es genügte, Annie zu treffen, um mich froh zu machen. Ich stibitzte ihr die Haarbänder, damit sie mir hinterher lief und sie mir eiskalt aus den Händen riss, ehe sie eiskalt auf dem Absatz kehrtmachte. Es gibt nichts Kälteres als ein verärgertes kleines Mädchen.

    Ausgerechnet diese ungeschickt in ihr Haar gewundenen Stoffstücke brachten mich zuerst auf die Puppen im Geschäft.
    Meine Mutter führte den Kurzwarenladen des Dorfes. Nach der Schule gingen wir beide dorthin, ich zu meiner Mutter, Annie zu ihrer, die die Hälfte ihres Lebens dort verbrachte, die Hälfte, die sie nicht mit Nähen verbrachte. Als Annie einmal am Puppenregal vorbeiging, stach mir plötzlich die Ähnlichkeit ins Auge. Außer den Bändern hatte sie auch den außerordentlich weißen, feenhaften Teint mit ihnen gemeinsam. Meine noch kindlichen Gedanken begannen zu rasen und mir fiel auf, dass ich von ihrer Haut nie etwas anderes gesehen hatte als das, was ihr Hals, ihr Gesicht, ihre Füße mir offenbarten. Haargenau wie die Porzellanpuppen!
    Wenn ich durch den Wartesaal der Praxis meines Vaters ging, war Annie manchmal dort. Sie kam immer ganz allein zur Untersuchung und saß klein und zart in dem schwarzen Sessel. Das Asthma entstellte ihr Gesicht, sie glich den Puppen nie so sehr, wie wenn ihre Wangen vom Husten glühten.
    Da jede Ähnlichkeit wechselseitig ist, erinnerten mich auch die Porzellanpuppen an Annie, und so stahl ich sie. Doch sobald ich sie im Schutz meines Zimmers näher betrachtete, war ich unweigerlich von ihrem zu lockigen oder zu glatten Haar, ihren zu runden oder zu grünen Augen abgestoßen, und keine hatte die langen Wimpern, die Annie mit dem Zeigefinger hochdrückte, wenn sie überlegte. Wie die Menschen waren auch diese Puppen nicht dazu bestimmt, jemandem ähnlich zu sein, und ich nahm ihnen das übel. Deshalb ging ich zum Teich, band ihnen einen Stein an die Füße und sah ohne Schmerzen zu, wie sie untergingen, in Gedanken schon bei der Nächsten, die ich mir aneignen würde, einer ähnlicheren, wie ich hoffte.

    In diesem Jahr drehte sich meine Welt nur um mich und Annie. Um uns herum geschah eine Menge, was mir völlig gleichgültig war. In Deutschland übernahm Hitler die Macht. Brecht und Einstein flohen, während Dachau errichtet wurde.
    Naive Überheblichkeit der Kindheit, die sich vor der Geschichte in Sicherheit wähnt ...

Ich hatte diesen Brief nur überflogen. Dann blätterte ich ungläubig zurück und musste ganze Sätze noch einmal lesen. Seit Mamans Tod konnte ich mich nicht mehr auf das konzentrieren, was ich las. Für ein Manuskript, das ich sonst in einer Nacht

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