Das geheime Prinzip der Liebe
Eines Tages bekam ich einen Brief. Einen langen Brief ohne Unterschrift.
Das war ein Ereignis, denn ich habe noch nie besonders viel Post bekommen. Da sich der Inhalt meines Briefkastens in der Regel auf Postkarten mit »Das Meer ist warm« oder »Wir haben viel Schnee« beschränkte, sah ich nicht oft hinein. Einmal pro Woche, zweimal in düsteren Zeiten, wenn ich von ihm – wie vom Telefon, von meinen Metrofahrten, vom Augen schließen, bis zehn zählen und sie wieder öffnen – erwartete, dass mein Leben erschüttert werde.
Dann starb meine Mutter. Da hatte ich, was ich wollte: Um ein Leben zu erschüttern, gibt es kaum etwas Besseres als den Tod einer Mutter.
Ich hatte noch nie Kondolenzbriefe gelesen. Nach dem Tod meines Vaters hatte mir meine Mutter diese triste Lektüre erspart. Sie hatte mir nur die Einladung zur Übergabe der Medaille gezeigt. Ich erinnere mich noch an die erbärmliche Zeremonie, ich war vor kurzem dreizehn geworden: Ein großer Kerl drückt mir die Hand, er will mich anlächeln, aber ich sehe nur ein Zucken, sein Mund ist schief, und wenn er spricht, ist es noch schlimmer.
»Wir bedauern zutiefst, dass der Tod am Ende einer so heldenhaften Tat stand. Mademoiselle, Ihr Vater war ein Held!«
»Sagen Sie diesen Satz zu allen Waisen Ihres Krieges?
Denken Sie, dass der Stolz sie von ihrem Kummer ablenkt? Das ist sehr barmherzig, aber lassen Sie es lieber bleiben, ich habe keinen Kummer. Außerdem war mein Vater kein Held. Nicht einmal mit dem ganzen Alkohol, den er jeden Tag trank. Nehmen wir lieber an, dass Sie sich in der Person geirrt haben, und vergessen das Ganze.«
»Auch wenn es Sie erstaunt: Ich bleibe dabei, Mademoiselle Werner. Ich spreche durchaus von Sergent Werner. Er hat sich als Freiwilliger gemeldet, um den Weg zu erkunden, und er wusste, dass das Feld vermint war. Ob Sie wollen oder nicht, Ihr Vater hat sich ausgezeichnet, und Sie müssen diese Medaille annehmen.«
»Mein Vater hat sich nicht ›ausgezeichnet‹, Monsieur Schiefmaul, er hat sich umgebracht, und Sie sollten das auch meiner Mutter sagen. Ich will nicht die Einzige sein, die es weiß, ich will mit ihr darüber sprechen können und ebenso mit meinem Bruder Pierre. Der Selbstmord eines Vaters darf kein Geheimnis bleiben.«
Ich erfinde oft Dialoge, um Sachen auszusprechen, die ich denke. Das erleichtert mich. In Wirklichkeit war ich gar nicht bei dieser Zeremonie zum Gedenken an die Soldaten im Indochinakrieg, und in Wirklichkeit habe ich nur ein einziges Mal laut gesagt, dass sich mein Vater umgebracht hat – zu meiner Mutter, in der Küche, an einem Sonnabend.
Sonnabends gab es Pommes frites, und ich half meiner Mutter, Kartoffeln zu schälen. Früher hatte Vater ihr geholfen, und ich sah ihm gern dabei zu. Wenn er schälte, sprach er zwar nicht mehr als sonst, aber es gab wenigstens ein Geräusch, das von ihm ausging, und das tat gut. Camille, du weißt, dass ich dich lieb habe. Ich legte dieselben Worte
in jeden Schnitt seines Messers: Camille, du weißt, dass ich dich lieb habe.
In mein eigenes Schneiden hatte ich an jenem Sonnabend andere Worte gelegt: »Vater hat sich umgebracht. Du weißt es, stimmt’s, Maman? Dass Vater sich umgebracht hat.«
Die Friteuse fiel ihr aus den Händen und zerbrach die Bodenfliesen. Das Öl breitete sich zwischen den erstarrten Beinen meiner Mutter aus.
Ich putzte die Fliesen zwar wie eine Wilde, aber unsere Füße klebten noch mehrere Tage lang und ließen meine Sätze in unseren Ohren knirschen: Vater hat sich umgebracht. Du weißt es, stimmt’s, Maman? Dass Vater sich umgebracht hat. Um es nicht mehr zu hören, redeten mein Bruder Pierre und ich ganz laut, vielleicht auch, um das Schweigen von Maman zu übertönen, die seit jenem Sonnabend fast gänzlich verstummte.
Die Küchenfliesen sind noch immer zerbrochen, das ist mir letzte Woche aufgefallen, als ich dem interessierten Paar Mamans Haus gezeigt habe. Jedes Mal, wenn das interessierte Paar, sofern es sich in ein Käuferpaar verwandelt, auf den großen Riss am Boden schaut, wird es auf die Nachlässigkeit der Vorbesitzer schimpfen. Die Bodenfliesen werden das Erste sein, was sie erneuern lassen. Sie werden froh sein, loszulegen, wenigstens dazu wird sie gut gewesen sein, meine entsetzliche Enthüllung. Sie müssen das Haus unbedingt kaufen, sie oder andere, das ist mir egal, aber jemand muss es kaufen. Ich will es nicht und Pierre auch nicht. Ein Ort, an dem einen alles an die Toten erinnert, ist kein
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