Das geheime Prinzip der Liebe
an der Schranktür, meine Post hatte sie auf den Tisch gelegt. Eine Mischung von Enttäuschung und Dankbarkeit überwältigte mich. Die Tränen hätten sicher den Sieg davongetragen, wäre mir
nicht ein Brief aufgefallen, der größer und dicker war als die anderen.
Ich machte ihn auf und traute erst meinen Augen nicht. Wieder der geheimnisvolle Louis, der seine Geschichte dort fortsetzte, wo der erste Brief aufgehört hatte.
Annie und ich gingen in dieselbe Schule.
Das Gebäude bildete zwar eine Einheit, aber hinter dieser scheinbaren Freizügigkeit wurde der Anstand gewahrt und die Trennung der Geschlechter streng eingehalten. Unten war die Mädchenetage, oben die der Jungen. Wegen dieses sittlichen Reglements vergingen oft mehrere Tage, ohne dass ich Annie zu Gesicht bekam. Ich musste mich auf die Vorstellung beschränken, wie sie mit ihrem eifrigen Zeigefinger die Wimpern hochdrückte, musste versuchen, ihren Schritt zu erkennen, wenn die Schülerinnen an die Tafel gingen, und war glücklich, wenn ich sie husten hörte.
Ich hasste diese Etagen. Ich hasste sie umso mehr, als die Verteilung nicht immer so gewesen war. Früher waren die Mädchen oben gewesen. Mein Cousin Georges hatte sie noch gesehen, die weißen, rosaroten, blauen Unterhöschen, die in Viererreihen die Treppen herunterkamen. Er stellte sich unter die Stufen, um sich ausgiebig an diesem Regenbogen zu ergötzen, der sich wunderbarerweise bei jedem Wetter entfaltete. Aber wie so oft wurde meine Generation für die Dummheit der vorangegangenen bestraft. Deren anstößige Blicke waren der Schuldirektorin, Mademoiselle E., nicht entgangen, und so kamen wir nach oben, allerdings ohne unsere Treter, die wir ausziehen mussten, um keinen Lärm zu machen, wir, nach denen nun die Mädchen schielten, wenn wir herunterrannten, um sich über die Löcher in unseren Strümpfen lustig zu machen, während wir wie die
Wilden drängelten, um rauszukommen. Wer als Erster auf dem Hof war, hatte gewonnen, es gab zwar keinen Preis, aber in diesem Alter genügt schon die Herausforderung … erst recht, wenn die Mädchen zusehen. Die Zahl der blauen Flecken und Stürze bereiteten Mademoiselle E. gewiss Sorgen, aber sie machte ihre Entscheidung nicht rückgängig, und die Moral trug den Sieg über die Sicherheit davon.
Dann aber folgte jener glückliche Tag, als mir dieses verhasste Arrangement zugute kam. Ich wollte auch einmal Erster sein, ein Ziel ohne Gralsverheißung, ich brach mir das Schienbein und war für mehrere Wochen ans Haus gefesselt. Unverhofft stand mein Gral am nächsten Abend in meiner Zimmertür. Mit dem Argument, sie komme ohnehin fast jeden Abend zu ihrer Mutter in den Kurzwarenladen, hatte sich Annie gemeldet, um mir die Schulaufgaben zu bringen. Sie war aufgestanden, hatte sich dem Spott ausgesetzt, der im Klassenraum laut wurde, das alberne Kichern, das ihr unterstellte, wovon ich mir so wünschte, dass sie es wäre: »meine Liebste«. Sie brachte mir jeden Tag meine Aufgaben.
Nie zuvor hatte ich sie so häufig gesehen, ich saß da wie aus Stein, das Bein ebenso starr wie der Rest. Ich musste sie aufhalten, länger als die paar Minuten, die sie damit verbrachte, nicht zu wissen, wo sie sich hinsetzen sollte, und ich, nicht zu wissen, wo ich sie ansehen sollte. Wir hatten beide das Alter des Körpers erreicht: sie, ihren zu zeigen, ich, davon zu träumen.
Ich hatte Angst, sie würde von diesem langweiligen Auftrag bald genug haben und jemand anders an ihrer Stelle schicken. Deshalb ließ ich meine Mutter unter dem Vorwand irgendeiner Schulaufgabe in der Bibliothek Bücher
über Malerei ausleihen und vertiefte mich in ungeduldiger Erwartung von Annies Erscheinen – und der Angst, jemand anders zu sehen – in die Lektüre dieser Werke. Ich hoffte, wenn ich mit ihr über ihre Leidenschaften spräche, würde ich selbst eine werden.
So wurden die Malerinnen meine neuen Porzellanpuppen, meine neuen Vermittlerinnen in dieser Liebesgeschichte, für die ich immer noch keine Worte fand. Ich erzählte Annie ausführlich vom Leben der Künstlerinnen, sie hörte mir aufmerksam zu, ohne sich je zu wundern, was ich alles wusste.
Ich hatte es geschafft: Aus den Minuten ihres Besuchs wurden Stunden …
Das war doch nicht zu fassen! Ratlos warf ich die Seiten des Briefs auf den Tisch. Der Irrtum ging weiter. Ich musste den Mann finden, um ihm zu sagen, dass er sich im Adressaten irrte. Aber ich hatte keinen Hinweis, um seine Spur zu verfolgen. Da kein
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