6. Die Rinucci Brüder: Neapel sehen und sich verlieben
Lucy Gordon Neapel sehen - und sich verlieben
6. Teil der Miniserie „Die Rinucci Brüder“
1. KAPITEL
„Der Felsen ist direkt vor dir. Du brauchst nur die Hand auszustrecken, dann kannst du ihn berühren.“ Celia ließ die Finger über das Gestein gleiten und ertastete den Felsen nach allen Seiten, während Ken ihr von Bord des Schiffes aus Anweisungen erteilte.
„Kannst du seine Form ertasten?“
„Ja“, erwiderte sie. „Aber ich möchte noch weiter hinunter.“
„Hast du noch nicht genug für heute?“, fragte Ken.
„Das Abenteuer hat doch gerade erst angefangen, es gibt hier noch viel mehr zu entdecken.“ Sie wollte so viel wie möglich erleben, auf diese Weise trotzte sie ihrer Blindheit. Diese
Lebenseinstellung hatten ihr ihre Eltern vermittelt, die ebenfalls beide blind waren. Deren Motto lautete: „Auch ohne Augenlicht kann man jedes Abenteuer bestehen und das Leben genießen.“ „Nun mach schon, lass mich tiefer hinunter“, drängte sie.
Er stieß einen Seufzer aus. „Dein Freund bringt mich um.“
„Nenn ihn nicht ‚meinen Freund‘. Das klingt so, als wären wir Kinder.“
„Wie soll ich ihn sonst nennen?“
Eine gute Frage. Was war Francesco Rinucci für sie? Ihr Verlobter? Nein, sie hatten noch nie über Heirat gesprochen. Ihr Lebenspartner vielleicht? Das kam der Sache schon näher. Oder sollte sie ihn als ihren Liebhaber bezeichnen? Er ist mein Partner, mein Liebhaber und noch so vieles mehr, überlegte sie.
„Mach dir wegen Francesco keine Gedanken“, sagte sie. „Er weiß nicht, dass ich hier bin. Und wenn er es herausfindet, geht er bestimmt nicht auf dich los, sondern reagiert seinen Ärger an mir ab. Und nun lass mich endlich tiefer hinunter. Wo ist das Problem?“
„Du bekommst deinen Willen, wenn Fiona einverstanden ist“, antwortete Ken.
„Natürlich, bin ich“, meldete sich ihre Tauchpartnerin sogleich.
Sie griff nach Celias Hand, und dann glitten die beiden Frauen tief in die Unterwasserwelt der Mount’s Bay an der Küste von Cornwall. Ken und seine Crew hatten vor über einer Stunde in Penzance abgelegt und ungefähr eine Seemeile von der Küste entfernt auf dem Meer über der Stelle gestoppt, wo ein Piratenschiff nach einer Schlacht mit der britischen Marine gesunken sein sollte. Man hatte es jedoch nie gefunden.
Nur mühsam hatte Celia ihre Ungeduld zügeln können, während jemand von der Mannschaft ihr die Tauchflasche auf dem Rücken befestigte und ihr erklärte, wie alles funktionierte. Gegen die spezielle Atemmaske, die der Verständigung unter Wasser diente und die ihr ganzes Gesicht bedeckte, wehrte sie sich heftig.
„Ich dachte, ich brauchte nur eine Taucherbrille und ein Mundstück mit Schlauch, um an die Flasche angeschlossen zu werden“, protestierte sie.
„Da wir in ständigem Kontakt mit dir bleiben müssen, brauchst du die Maske.“ Kens Tonfall duldete keinen Widerspruch.
Sie hatte nachgegeben und war schließlich Hand in Hand mit Fiona ins Meer gesprungen.
Durch ihren Tauchanzug hindurch spürte sie die Kälte des Wassers. Während sie langsam
schwammen, erkundete sie mit den Händen die Unterwasserwelt. Sie musste alles mit den Fingerspitzen berühren, die Felsen, die Pflanzen, und zuweilen spürte sie sogar den einen und anderen größeren Fisch vorbeischwimmen. Sie lachte auf vor lauter Freude und Begeisterung. Was für ein aufregendes Erlebnis! Und das Schönste an allem war das Gefühl, frei zu sein von allem, was sie belastete und einengte.
Wollte sie frei sein von Francesco Rinucci?
Ja, vor allem von ihm, wie sie sich zögernd eingestand. Sie liebte ihn heiß und innig, aber sie war von London bis nach Cornwall gefahren, weil sie Abstand brauchte. Schon vor einer Woche hatte sie den Tauchausflug geplant, ohne es ihm zu verraten. Es gefiel ihr gar nicht, Geheimnisse vor ihm zu haben, ja, es machte sie sogar traurig, doch nachdem sie sich einmal dazu entschlossen hatte, wollte sie das Abenteuer auch zu Ende bringen. Für sie als Blinde war es ohnehin schon schwer genug, die Kontrolle über ihr Leben zu behalten. Francesco hätte sie aus lauter Liebe am liebsten in Watte gepackt und konnte nicht begreifen, dass er ihr damit alles noch viel schwerer machte.
„Alles in Ordnung?“, ertönte in dem Moment Fionas Stimme.
„Ja, ich bin ganz überwältigt von so viel Schönheit.“ Begeisterung schwang in Celias Stimme. Sie hatte ihre eigene Vorstellung von Schönheit. Alles, was sie hier unter Wasser fühlte und
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