Die verbotene Geschichte: Roman (German Edition)
Köln, März 2010
K atja riss sich die weißen Stöpsel aus den Ohren und starrte mit offenem Mund durch die Windschutzscheibe. Instinktiv zog sie ihr linkes Bein in den Fahrerraum zurück und schlug die Tür zu. Sie sah, wie der Radfahrer vor ihr auf die belebte Gegenspur zuschlingerte. Während er sich bemühte, die Kontrolle zu behalten, schlug das Vorderrad ruckartig hin und her. Zwei Autofahrer versuchten, dem unberechenbaren Geschoss auszuweichen, und verrissen das Lenkrad Richtung Bürgersteig. Bremsen quietschten. Katja schloss die Augen und biss die Zähne aufeinander. Sie wartete auf den Aufprall. Doch stattdessen sauste wenig später eine Faust auf die Motorhaube ihres Sportwagens nieder. Sie fuhr zusammen und öffnete ungläubig die Augen.
»Kannst du nicht aufpassen, du blöde Kuh?«
Ein behelmter Männerkopf beugte sich durchs offene Fenster zu ihr herunter. Es erschien Katja unglaublich, doch der drahtige Typ im Rennfahrertrikot saß trotz des riskanten Ausweichmanövers noch immer im Sattel und stützte sich nun mit der Hand an ihrem Autodach ab. Sein wutverzerrtes Gesicht kam dem ihren so nahe, dass Katja schon befürchtete, er könne jeden Moment handgreiflich werden. Unwillkürlich hob sie ihre Hände und legte sie zum Schutz auf Stirn und Schläfen.
»Es tut mir leid. Ehrlich, ich weiß gar nicht, wie das passieren konnte. Normalerweise …« Sie biss sich auf die Unterlippe. Es musste ja wie Hohn in seinen Ohren klingen, wenn sie behauptete, dass sie sich sonst vor dem Aussteigen immer zuerst umschaute, ob jemand auf dem Radweg hinter ihr fuhr.
»Sorry«, sagte sie deshalb nur leise und hob entschuldigend die Hände.
»Dein sorry kannst du dir sonst wohin schieben! Verdammt, ich hätte tot sein können!«
Katja begann trotz der Erleichterung zu zittern. Der Mann lebte. Das war alles, was zählte. Sie wusste, dass sie unter Schock stand. Dabei wollte sie so gerne etwas Passendes sagen, ihn zumindest fragen, ob er sich verletzt hatte und ob sein Rad in Ordnung war. Doch noch bevor sie die richtigen Worte fand, stieß sich der Radfahrer kraftvoll vom Auto ab und trat in die Pedale.
»Scheißautofahrer«, hörte sie ihn noch fluchen, als er kopfschüttelnd davonfuhr. Katja barg ihr Gesicht in den Händen. Sie ließ die Stirn aufs Lenkrad sinken, schloss die Augen und begann zu weinen. Es stimmte, was er gesagt hatte. Sie hätte ihn tatsächlich umbringen können! Wer wüsste das besser als sie?
Erst vorletzte Woche hatte sie gemeinsam mit den anderen Notärzten im Dienst ein sechzehnjähriges Mädchen versorgt, das auf dem Weg zur Schule von einer sich plötzlich öffnenden Wagentür in die Luft geschleudert worden war. Wahrscheinlich würde der Teenager für den Rest seines Lebens von der Hüfte abwärts gelähmt bleiben.
»Alles in Ordnung mit Ihnen? Brauchen Sie Hilfe?«
Katja spürte den sanften Druck einer Hand auf ihrer Schulter. Langsam hob sie den Blick und strich sich eine Strähne ihres schulterlangen Haares hinters Ohr. Sie sah in das besorgte Gesicht einer älteren Dame, die durchs offene Fenster zu ihr hereinschaute. Katja schüttelte nur den Kopf und zwang sich zu einem Lächeln.
»Nein danke. Es geht schon wieder.«
Die Dame hob kurz die Brauen, als zweifle sie ihre Worte an, nickte schließlich und ging weiter. Katja seufzte. Bevor noch mehr geschah, sollte sie besser aussteigen. Sie stopfte ihren MP3-Player in die Handtasche und griff nach den beiden Einkaufstüten auf dem Rücksitz. Sie schüttelte sich, als könnte sie auf diese Weise das eben Erlebte loswerden. Schließlich stieg sie aus, schloss den BMW ab und überquerte zügig die Straße. Fünf Minuten später stand sie vor einem Mehrfamilienhaus, das sich mit seiner nüchternen Fassade aus den siebziger Jahren nahtlos in seine triste Nachbarschaft einfügte. Sie setzte die Tüten ab und fischte in ihrer Handtasche nach dem Hausschlüssel. Als sie ihn nicht gleich finden konnte, füllten sich ihre Augen wieder mit Tränen. Mein Gott, reiß dich zusammen! Endlich fühlte sie den Schlüssel zwischen ihren Fingern und schloss schnell die geriffelte Glastür auf. Sie stellte den Fuß in den Rahmen, nahm die Tüten und betrat den Flur. Die vier Stockwerke bis zu ihrer Dachterrassenwohnung bewältigte Katja zu Fuß, einen Fahrstuhl gab es nicht. Oben angekommen, öffnete sie die Tür, trat in den Eingangsbereich, lehnte sich für einen Moment mit dem Rücken gegen die Wand und atmete tief durch. Dann ging sie zur
Weitere Kostenlose Bücher