Das Geheimnis der Hebamme
bringen.
Ein Schmerzensschrei gellte aus den oberen Fensterluken des Bergfrieds.
»Hörst du, die Herrin braucht deine Hilfe«, knurrte Oswald.
Marthe schwieg.
Sie war nicht nur deshalb besorgt, weil dies ihre erste Entbindung ohne Serafines Hilfe sein würde. Ihre Lehrmeisterin hatte angesichts der fortschreitenden Krankheit darauf bestanden,dass Marthe auch allein Kranke behandelte und Kinder auf die Welt holte. Aber bisher war Fine immer dabei gewesen und hatte darauf geachtet, dass ihre junge Nachfolgerin alles richtig machte.
Doch Irmhild, die junge Frau des Burgherrn, hatte noch nie ein gesundes Kind geboren. Bei einer Fehlgeburt und einer Totgeburt waren Serafine und Marthe schon an ihrer Seite gewesen. Jetzt kam sie vor der Zeit nieder, drei Monate zu früh nach Marthes Rechnung.
Wieder gellte ein Schrei über den Burghof.
Der Verwalter näherte sich Marthe und Oswald. Er war ein übellauniger Mann, dessen Augen in dem aufgedunsenen Gesicht fast verschwanden. Sein dunkelbraunes Übergewand war aus feinem Stoff, aber verschlissen und verschmutzt.
»Was bringt ihr da? Wo ist die alte Wehmutter?«, fragte er den Reisigen unwirsch.
»Die liegt im Sterben – nichts zu machen.« Bedauernd hob Oswald die Arme. »Da haben wir die junge mitgebracht.«
Der Verwalter musterte die zierliche Marthe.
»Du hast doch selbst noch kein Kind geboren – wie willst du da eines auf die Welt holen?«, fragte er abfällig.
»Ich werde mich bemühen, Herr«, antwortete sie so ruhig sie konnte. »Aber es ist noch viel zu früh für die Geburt eines gesunden Kindes. Vielleicht wäre es besser, eine erfahrene Hebamme von weiter her zu holen.«
»Hat dir niemand Benehmen beigebracht?«, fauchte der Verwalter. »Auf die Knie! Die Frau hat zu schweigen und den Blick zu senken.«
Wie soll ich erkennen, was den Menschen fehlt, wenn ich sie nicht einmal anschauen darf?, dachte Marthe grimmig, während sie gehorchte. Dabei könnte ich schwören, dass deineGalle bald überläuft. Du solltest weniger üppig essen! Doch sie schwieg wohlweislich. Widerworte wurden nicht geduldet. Für ihren Rat hätte sie statt Dank nur Prügel bekommen.
Kalt betrachtete der Verwalter das kniende Mädchen, bis er ihr schließlich mit einem Wink bedeutete, aufzustehen und ihm zu folgen.
Die Halle war düster, eiskalt und rußgeschwärzt. In einer Ecke rauften ein paar Hunde. Burgherr Wulfhart saß allein am Tisch, vor sich Becher und Krug. Den Kopf auf einem Arm gestützt, blickte er nur kurz auf und starrte dann wieder ins Leere.
»Mein Herr, dieses junge Ding hier wird Eurer Gemahlin beistehen«, sagte der Verwalter ehrerbietig.
Schnell schob er Marthe nach vorn, die pflichtgemäß vor dem Ritter auf die Knie sank.
Wulfhart starrte sie aus glasigen Augen an.
Er ist schon am frühen Morgen betrunken, erkannte Marthe sofort und blickte schaudernd zu Boden. Ihr war, als könnte sie das Böse, das von Wulfhart ausging, um ihn wabern sehen.
»Du willst dich aufs Kinderholen verstehen? Wie alt bist du?«, raunzte Wulfhart.
»Beinahe vierzehn, Herr«, sagte Marthe und hielt den Blick starr nach unten auf die verdreckten Binsen gerichtet, die den Boden der Halle bedeckten. Genau wusste sie ihr Alter nicht; sie war eine Waise. Vor zehn Jahren hatte ein Haufen Gesetzloser Marthes Eltern totgeschlagen und die Schafe geraubt, die sie für den Burgherrn hüteten. Serafine, die bei der Schäfersfrau frische Kräuter hatte eintauschen wollen, entdeckte die Bluttat und fand die völlig verstörte Marthe in einem Gebüsch versteckt. Sie nahm sie bei sich auf und brachte ihr mit der Zeit alles bei, was sie selbst als Heilkundige wusste.
»Verzeiht, mein Herr, in der Kürze der Zeit konnten wir keine andere Wehmutter auftreiben«, beeilte sich der Verwalter hinzuzufügen und breitete bedauernd die Arme aus.
Aus den Räumen über ihnen hallte erneut ein Schrei.
Wulfhart blickte träge auf. »Mach, dass das Gejammer ein Ende hat, und verhilf mir endlich zu einem Sohn«, sagte er mit befehlsgewohnter Stimme. Dann plötzlich beugte er sich vor und brüllte: »Und sieh zu, dass es diesmal einer wird und nicht wieder so eine tote Missgeburt! Sonst lasse ich dir Hände und Füße abschlagen!«
Der Verwalter zerrte Marthe hoch und schob sie hinaus.
»Du hast gehört, was der Herr gesagt hat. Er pflegt seine Versprechen zu halten.«
»Ja, Herr«, antwortete Marthe kreidebleich.
Daran hatte sie keinen Zweifel.
Beklommen kletterte Marthe die Stufen zum
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