Jemand Anders
Prolog
Er schaut hinauf zur knallgelben Plastikuhr, mit ihren stilisierten Frauenkörpern als Zeigern: fünf vor neun. Eigentlich sollte er schon längst in der Garderobe sein. Aber es macht ihm nichts aus, der Letzte im Studio zu sein, absolut nichts. Das Privileg nimmt er sich einfach heraus, und nicht zum ersten Mal. Selber schuld, Mädel, grinst er in sich hinein. Hättest was Ordentliches gelernt, dann könntest du dich jetzt mit deinem Lover vergnügen und müsstest nicht für mich da sein. Von wegen Kunde ist gleich König und so.
Die Kleine steht allein an der Theke, von ihm abgewendet und offenkundig damit beschäftigt, einen Shake zu mixen. Bereits seinen zweiten an diesem Abend, den für danach. Er hat ihn bestellt, indem er seinen Zeige- und Mittelfinger zu einem V spreizte. Das Victory-Zeichen. Es könnte auch für den Sieg über seinen inneren Schweinehund stehen.
Er freut sich schon auf die gelbliche Eiweißbombe. Aber vorher will er es sich noch einmal beweisen. Es sich … Er braucht keine Zuseher dabei. Was hat er gemein mit diesen solariumgerösteten, öltriefenden Muskelprotzen, die selbstverliebt ihre Sixpacks in der Spiegelwand begaffen oder sich, lässig an ein Kraftgerät gelehnt, mit ihresgleichen über die neuesten anabolen Steroide am Markt austauschen. Die Tag für Tag in diesem Maschinenpark herumhängen, als ob es sonst nichts zu tun gäbe. Kretins, denkt er, hirnamputierte, bizepsstrotzende Kretins! Und jeder Dritte tätowiert, vom Arsch aufwärts. Mit kitschigen Blumengirlanden, chinesischen Schriftzeichen. Als wären sie allesamt Mitglieder einer asiatischen Gang. Eitelkeit, der Sinn ihres Lebens hier im Vanity Fair des einundzwanzigsten Jahrhunderts.
Nicht so bei ihm. Er kann auf Sixpack und pralle Oberschenkel ohne weiteres verzichten. Auch dass sein Bauchumfang trotz des eigens für ihn zusammengestellten Trainingsprogramms bisher nicht geringer geworden ist, kratzt ihn nicht: Meine Wampe gehört zu mir wie die fette Zigarre nach einem Viergangmenü; das Motto, das er jedem Stänkerer mit Wonne entgegenschleudert, am liebsten den passionierten Nichtrauchern. Und abgesehen davon: Selbst ein zwanzig Kilo leichterer Ranzen vermöchte ihn kaum mehr in einen Adonis zu verwandeln. Ob seine Alte es überhaupt bemerken würde? Adele, das frustrierte Adelchen, die Quartalquengelsuse mit ihren ewig klagenden, anklagenden Augen. Vor zehn Jahren hätte eine andere Figur vielleicht noch eine Rolle gespielt, aber jetzt …
Was sie bemerkt, ist ihm mittlerweile so was von egal. Scheißegal!
Alsdann, murmelt er und bewegt sich langsam auf Nummer 12 a zu. Es gibt daneben ein identisches Gerät, 12 b, aber aus irgendeinem Grund hat er sich schon am ersten Tag für 12a entschieden. Seither wartet er, selbst wenn das Studio randvoll ist mit Leuten, lieber ab, bis seine Bank frei ist, als die andere zu benutzen. Seit drei Monaten trainiert er bereits darauf, hat allein auf 12a schon etliche Tonnen hochgestemmt, Bankdrücken ist eindeutig sein Ding im Kraftbereich. Vielleicht, weil da die Fortschritte am augenfälligsten sind. Wenn er zurückdenkt an die mageren vierzig Kilo, mit denen er begonnen hat! Jetzt hält er bei mehr als dem Doppelten. Und heute, heute Abend will er das erste Mal dreistellig werden.
Nur so für sich.
Ganz ohne Zeugen.
Er legt die Scheiben auf und streift das rote Badetuch mit seinen gestickten Insignien über die Bank. Dann lässt er sich vorsichtig darauf nieder. Der silberne, blitzende Stahl der Olympiahantel reflektiert einen der vielen Spots, was etwas blendet, aber ihn zugleich erfreut. Wahrlich, an der Hygiene und Sauberkeit in diesem Studio gibt es nichts zu bekritteln.
Die Musik aus dem Kopfhörer hüllt ihn ein. Bachs Suite Nr. 3 in D-Dur, BWV 1068 – Air. Seine Air! Es gibt nichts Friedlicheres als diesen grünen, breiten Strom, dieses wohlige Wallen. Bach eben. Im Grunde die einzige Musik, die er noch gelten lässt. Früher, in seiner Aktivzeit, hat er sich auch mit anderen großen Meistern herumgeschlagen: Schostakowitsch, Strawinsky, Martinů. Meinte, die slawische Seele für sich entdeckt zu haben, und fand sie inspirierender als jeden Mozart, jeden Schubert. Aber als er mit dreißig Bachs Air erstmals im Radio hörte (nein, nicht zum ersten Mal, aber zum ersten Mal richtig!), als dieses unglaubliche Wallen in D-Dur Besitz von ihm ergriff, wusste er, dass die Suche nun ein Ende hatte, dass er keine anderen Platten mehr in seinem Leben kaufen würde als
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