Das Geheimnis der Jadefigur (German Edition)
überzeugt ausgesehen, und das war das Wichtigste. Ohnehin hatte der Kommandant sie niemals gesehen, und er würde gewiss nicht prüfen, ob eine Reisende der zweiten Klasse seinem Rat gefolgt war.
Nina überlegte.
Allein zurechtkommen
… War das möglich, wenn man sein ganzes Leben unter der Aufsicht von Erwachsenen verbracht hatte? Zunächst glücklich zusammen mit ihren Eltern, dann mit ihrer Mutter. Dann unglücklich bei ihrer Tante. Dennoch hatte sie in diesem Augenblick in dieser Kabine des Schiffs, so weit von Frankreich entfernt und ohne jemanden, der ihr half oder sie beriet, nur einen Gedanken: Nein, ich werde nicht umkehren. Ja, ich werde alleine zurechtkommen.
Noch einmal las sie die Nachricht. Wer war dieser Professor Morton? Was sollte sie sich unter »verschieden« vorstellen? Und wenn es ein Irrtum, ein schlechter Scherz war? Wie sollte man es wissen? Je mehr sie darüber nachdachte, desto mehr setzte sich in ihrem Herzen und Kopf die Gewissheit fest: Nein, nichts hatte sich geändert. Ihr Vater erwartete sie, sie wusste nicht wo, aber irgendwo! »Aber wie soll ich ihn finden?«, sagte sie und ließ ihren Blick durch die Kabine schweifen, als könnte die Lösung von dem armseligen Mobiliar oder den beiden am Fuße der Kojen stehenden Reisekoffer her kommen.
›Was wäre, wenn ich mich einfach in der Kabine verstecken würde, bis ich in Hué angekommen bin?‹ Kaum wäre sie angekommen, würde die Drohung ihrer Tante in die Tat umgesetzt werden: Man würde sie ins Waisenhaus schicken. Doch wer wäre »man«? Dieser Professor Morton? Er kannte sie nicht, wie könnte er eine Entscheidung treffen?
›Stellen wir uns einmal vor‹, dachte Nina weiter, ›dass ich diesem Professor Morton gar nicht begegne und allein bis zum Landsitz meines Vaters mit den vielen Bediensteten komme.‹
Allein leben. Das ist einfach, wenn man Geld und Bedienstete hat! Doch würden diese Bediensteten einem Mädchen mit Zöpfen und Kniestrümpfen gehorchen? Mit fünfzehn Jahren ist ein Mädchen nichts. Alle haben Macht über sie.
Nina schaute auf Miss Melly Koffer. Er stand noch da, neben ihrem. Mit dem Namen auf dem Etikett:
Miss Mélanie Bell, Lycée Chasseloup-Laubat, Saigon
. Auf ihrem stand geschrieben:
Mademoiselle Antoinette d’Armand, Landgut Teng, Hué
. Es war beim bloßen Anschauen unmöglich, zu ahnen, dass in dem einen schöne Kleider und in dem anderen Kleider mit Matrosenkragen waren. Langsam nahm eine Idee in Ninas Kopf Gestalt an. Wenn dieser Professor Morton eine Person in langem Rock und Stiefeletten mit Absätzen von Bord kommen sähe, würde er es wagen, sie in ein Waisenhaus zu schicken?
›Mit einem Korsett, um die Brust anzuheben, mit hochgesteckten Haaren‹, sagte sich Nina, ›könnte ich doch eine junge Erwachsene sein.‹ Alles in allem sind die Chancen gering, dass er ihr genaues Alter kennt, und selbst wenn ihr Vater es ihm gesagt hat, könnte sie behaupten, dass er sich getäuscht hätte. Weil er sich dauernd irrte. Auf seiner letzten Geburtstagskarte hatte er ihr zu ihrem vierzehnten Geburtstag gratuliert!
Bis zu diesem Punkt war Nina so in ihre Gedanken versunken, so von dem Bedürfnis eingenommen, eine Entscheidung zu treffen, dass sie das Pochen an der Tür nicht vernahm. Erschreckt fuhr sie zusammen, als diese geöffnet wurde.
Ein Gesicht mit asiatischen Zügen erschien im Spalt.
»Oh, Entschuldigung, Mademoiselle«, sagte der Mann mit einem Akzent, der wie die Saiten einer Gitarre klang. »Ich dachte, es wäre niemand da.«
Ein rührendes Lächeln begleitete seine Worte, als er das junge Mädchen im Schneidersitz auf dem Bett sitzen sah, mit vor Angst blassen Wangen und aufgelösten Zöpfen.
»Es geht nur darum, einen Reisekoffer zu holen«, fuhr er fort. »Aber ich komme später wieder, ich will Sie nicht stören.«
»Warten Sie bitte auf dem Flur«, sagte Nina und fuhr sich mit beiden Händen über das Gesicht, »ich werden Sie rufen.«
Miss Mellys Reisekoffer. Jetzt sollte er geholt werden. Gleich würden die schönen Kleider und die Stiefeletten mit Absätzen verschwinden. Der Zeitpunkt, zu handeln, war gekommen.
Wie der Blitz sprang Nina von der Schlafkoje, nahm das kleine Stück Papier in dem Etikettenanhänger von Miss Melly, dann das von ihrem Reisekoffer und vertauschte sie.
»Das war’s, so einfach, jetzt kann er ihn holen!«
Sie hatte schon eine Hand am Türgriff, als ein Gedanke sie innehalten ließ. Sie ging zu ihrem Koffer zurück und öffnete ihn. Obenauf
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