Das Geheimnis der Jadefigur (German Edition)
Klassenkameradinnen mitgeteilt hatte. »Sie verstehen mich wenigstens«, sagte Nina immer wieder. Seltsamerweise schien auch Miss Melly über diese unvorhergesehene Freundschaft sehr glücklich zu sein. Sie hatte nicht einmal versucht, Kontakt zu anderen Passagieren aufzunehmen. »Du bist meine Erholungspause vor der Schule«, hatte sie ihr eines Tages anvertraut, als sie sich die Zeit damit vertrieben, die Delfine zu zählen, die vor dem Bug des Schiffs herumtollten. So sah Nina diese neue Freundin mit Beklommenheit gehen – und fühlte sich von einem Moment zum nächsten in ihre Einsamkeit zurückversetzt.
Sie hatte nicht einmal drei Seiten gelesen, als es an der Tür klopfte. Sie nahm an, jemand wolle Miss Mellys Koffer abholen, und rief vom Bett aus laut: »Herein!«
Der junge Mann, der auf ihre Aufforderung in der Tür erschien, sah nicht so aus, als würde der Reisekoffer ihn interessieren. Sein Gesicht war rot, verschwitzt und verlegen. ›Er sieht aus, als hätte er Zahnweh‹, dachte Nina bei sich.
»Mademoiselle d’Armand?«
»Ja.«
Ich bin der Telegrafist an Bord. Ich bin beauftragt, Ihnen eine Nachricht zu überbringen. Sie erreichte uns soeben aus Hué.« Nina richtete sich auf, zog an ihrem Kleid, um ihre Waden zu verbergen, und setzte sich auf die Bettkante.
»Haben Sie eine Nachricht von meinem Vater?«
»Eh … nein. Der Kommandant hat mich beauftragt, Ihnen die Nachricht zu überbringen und … es … es tut mir leid.«
Je näher er kam, desto mehr stammelte er. Schließlich hielt er ihr mit zitternder Hand ein Stück Papier hin.
Verunsichert faltete Nina das Blatt auseinander und las es. Und plötzlich war es ihr, als würde der ganze Passagierdampfer plötzlich mit einem einzigen schnellen Rutsch versinken. Und mit ihm alles andere, Saigon, Indochina, Frankreich, die ganze Welt.
Ich bedaure, Ihnen mitteilen zu müssen, Mademoiselle, dass Ihr Vater kürzlich verschieden ist. Es ist also unmöglich, dass Sie Ihre Reise fortsetzen. Sie müssen nach Frankreich zurückkehren. Ihre Tante ist informiert. Sie erwartet Sie. Mein Beileid
.
Prof. J. Morton
Trotz der Hitze fühlte sich Ninas Kopf eiskalt an. »… dass Ihr Vater kürzlich
verschieden
ist.« Sie wusste, was das bedeutete: Ihr Vater war tot. Ihre Hände zitterten jetzt wie die des Telegrafisten. Ihr erster Gedanke galt Miss Melly: Wenn sie nur dageblieben wäre! Wenn sie doch nur eine Freundin hätte, der sie ihr Leid klagen könnte. Aber nur der junge Mann war da, errötet und verlegen wegen des schwierigen Auftrags, den man ihm anvertraut hatte. Nina konnte nicht umhin, ihn zornig anzuschauen.
»Es tut mir leid«, stammelte er noch einmal, »tut mir leid. Bitte, ich habe den Auftrag, Sie auf ein anderes Schiff zu bringen; ein Schiff, das von Saigon aus nach Frankreich zurückfährt. Sie werden bald Ihre Familie wiedersehen, Mademoiselle.«
»Meine Familie!«
Ninas Ärger verwandelte sich in eine schmerzhafte Wut, die sie sich nicht erklären konnte. Sie dachte an
ihre Familie
. Ihre Tante, diese Frau, die sie hasste, die sie behandelte, als wäre sie ein kleines, von seinen Eltern zurückgelassenes, lästiges Äffchen. Es kam gar nicht infrage, zu dieser
Familie
zurückzukehren. Noch einmal bedauerte sie Miss Mellys Abreise. Doch es war nur noch ihr Reisekoffer da, der vor ihr stand.
»Wenn Sie wollen, werde ich Sie zu dem Schiff mit dem Ziel Frankreich bringen. Es liegt direkt vor unserem vor Anker.«
›Wenn Sie wollen‹?, dachte Nina, ohne zu antworten. ›Ich will nicht. Ich will nicht auf ein anderes Schiff gehen, ich will nicht nach Frankreich zurückkehren.‹ Im Augenblick wollte Nina nur eins: diesen unglücklichen Boten loswerden.
»Später«, sagte sie schließlich klanglos, »ich muss mich fertig machen. Und nein, Sie brauchen mich nicht zu begleiten. Ich werde das Schiff allein finden.«
»Sind Sie sicher? Der Kommandant hat mir gesagt, dass …«
»Ja, ich bin sicher, Monsieur«, antwortete Nina und imitierte, ohne es zu beabsichtigen, den schneidenden Ton ihrer Tante.
Und das tat seine Wirkung. Der junge Mann war sehr froh, das Problem los zu sein, zog sich zurück und stammelte weiter vor sich hin: »Es tut mir leid … es tut mir leid.«
»Machen Sie sich um mich keine Sorgen«, fuhr Nina in ruhigerem Ton fort. »Ich bin es gewohnt, allein zurechtzukommen.«
Schon war die Tür wieder geschlossen.
Tatsächlich war Nina es absolut nicht gewohnt, allein zurechtzukommen, doch der junge Mann hatte
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