Das Geheimnis der Tarotspielerin: Zweiter Band der Tarot-Trilogie (German Edition)
der Venus durch hohe Spenden. Der Schellenknecht öffnete mit anzüglichem Lächeln seinen Schultersack. »Eine milde Gabe für die Seele des Dahinscheidenden? Für einen Albus verspreche ich fünf Stundengebete, drei Seelenmessen kosten…«
»Der Mann ist noch nicht tot. Ein Arzt ist bei ihm«, wies Goswin ihn ab.
»Ärzte! Das macht die Sache gemeinhin nur schlimmer, oder glaubt Ihr, ich höbe sonst bei diesem Wetter eine Grube aus?«
Goswin schob den Knecht beiseite und öffnete für Lunetta die Kapellentür.
»Gottloses Pack«, zischte der Schellenknecht. »Ich meine, Gott sei mit Euch«, korrigierte er sich, als Goswin die Hand an sein Kurzschwert legte. Schnaubend betrat Lunettas Beschützer das düstere Gotteshaus.
Das Mädchen kniete bereits in einer Bank vor dem Altar. Auf dem Messtuch standen Kelch und Patene für die heiligen Handlungen des Pfarrers bereit. So neugierig wie misstrauisch beäugten Lunettas Banknachbarn die dunkelhaarige Schönheit. Sie musste ihnen exotischer als indischer Pfeffer erscheinen.
Es waren frierende Bettler und brotlose Krämer. Ihre klammen Lumpen verströmten den sauren Geruch von Armut und Angst. Ein einzelner Siecher saß, verhüllt in einen bodenlangen Reiseumhang, mit Handschuhen und tief herabgezogener Kapuze, in der hintersten Bank. Selbst den Ärmsten der Armen hatten die Aussätzigen auszuweichen.
Die Kapellentür klappte, und ein weiterer Besucher drängte an Goswin vorbei ins Gotteshaus. Es war ein Wanderhandwerker mit Krempenhut und einem Felleisen über der Schulter. Er blinzelte, um sich an das Dämmerlicht zu gewöhnen, dann musterte er Goswin, entdeckte das Wappen der Löwensteins auf seinem Brustharnisch, und seine Mundwinkel hoben sich zu einem verblüfften Lächeln.
Welch ein glücklicher Zufall! Nein, verbesserte sich der Schmied, das konnte kein Zufall sein, das war göttliche Fügung! Seine Augen saugten sich an dem Wappenemblem fest.
Goswin stieß einen knurrenden Laut aus. Der Handwerker wandte flugs den Blick ab, sah sich unter gesenkten Lidern suchend um und schlich katzengleich nach vorn. Direkt neben Lunetta ließ er sich in die Bank gleiten.
Er hatte sie gefunden. Ausgerechnet sie! Der Herr war groß und seine Wege unergründlich. Was würde Master Elias dazu sagen, der ihn doch ausgeschickt hatte, einen ganz anderen zu finden? Der ihm leider zwischen London und Antwerpen entschlüpft war. Wie vom Erdboden verschluckt.
Dieses Mädchen war seine Gelegenheit, Master Elias dennoch zu beweisen, dass er von Gott erwählt war, den Widersachern des Herrn und seines neuen Propheten die Stirn zu bieten. Ein Krieger des Lichts, der es verdient hatte, in die Sphäre der kommenden Engel aufzusteigen so wie Elias, der Künder der kommenden Welt.
Lunetta fing seinen halb lauernden, halb verzückten Blick auf, während er dicht an sie heranrutschte. Kleine, knotige Verwachsungen verunzierten seinen Hals. Der Wandergeselle musterte sie so eindringlich, als suche er nach vertrauten Zügen. Unsinn, schalt sich das Mädchen. Wahrscheinlich entkleidete er sie in Gedanken oder beraubte sie ihres Schmucks oder beides. Goswin näherte sich der Bank und räusperte sich warnend. Lunetta legte einen Zeigefinger an die Lippen und bedeutete ihm zu schweigen.
Die Blicke des Banknachbarn störten sie nicht. Im Gegenteil, zum ersten Mal seit ihrem Aufbruch aus Spanien fühlte sie eine bittere Befriedigung. Bis in ihr elftes Lebensjahr war sie selbst eine Ausgestoßene gewesen, vertraut mit dem Staub der Straße, mit Not, Verfolgung, Gier und Furcht. Todesfurcht, die sie niemandem, nicht einmal dem Vater in den letzten Jahren hatte zeigen dürfen.
Jeder nahm an, sie habe sie wie die Erinnerungen an die Mutter mit den Bettlerlumpen abgestreift und freudig gegen ein Leben in Seide eingetauscht. Alles an ihr hatte seither Dankbarkeit zu sein. Ihr Lachen, ihre Liebe, ihr Leben.
Für so unbeschwert hatte der Vater sie gehalten, dass er sie in Antwerpen ein zweites Mal in ihrem jungen Leben verlassen hatte, um ohne sie zu reisen. Ahnte er wirklich nicht, was das für sie bedeutete?
Lunetta hob den Blick zum Gekreuzigten.
Herr, ich bin reich, und ich weiß, ich gehe zu Freunden, doch ich fürchte mich. Warum spüre ich die Kälte des Todes in mir, seit mein Vater mich verließ? Droht ihm Gefahr? Werde ich die Freunde verändert finden? Gebeugt von Schmerz?
Draußen rauschte der Regen und prasselte auf das Bleidach der Kapelle, als wolle er Löcher hineinschlagen.
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