Das Geheimnis der Tarotspielerin: Zweiter Band der Tarot-Trilogie (German Edition)
trügerisches Gewand von Licht hüllt. Sie ist eine Tochter der Finsternis, und ich bin ein Engel des Herrn.«
»Schlag sie tot«, übertönten ihn die Bettler, trunken vor Begeisterung darüber, ihren Selbsthass auf die zauberische Fremde zu lenken.
»Aber doch nicht in meiner Kirche«, protestierte der Schellenknecht schwach, »draußen bei meiner Grube vielleicht, auf dem Friedhof…«
Niemand hörte seinen Vorschlag. Schon griffen die ersten nach herumliegendem Messgerät, umklammerten Kandelaber. Teils, um sie als Schlagwerkzeuge zu verwenden, teils, um sie als Kriegsbeute einzustecken. Der Schmied packte sich Lunettas Pelz, warf ihn sich um die Schultern und tanzte wie im Fieber zu einer wilden Melodie, die er allein vernahm.
Lunetta kniete neben Goswin. Der Handwerksbursche holte aus. Das Mädchen schloss die Augen und senkte den Kopf. Was war ihr Zorn gegen den des Herrn! Sie selbst hatte ihn heraufbeschworen. Ein sausendes Geräusch zerteilte die Luft. Lunetta öffnete den Mund zum Schrei.
3.
»Macht schneller! Vor einer Stunde ist der Bote gekommen. Unser Gast wird bald hier sein. Habt ihr die Gänse und die Pasteten im Ofen? Steht der Wein bereit? Spart nicht am Zimt, hört ihr? Ich will ein gutes Quäntlein Zimt im Wein. Und Orangen. Sie soll Orangen haben, wie in ihrer Heimat.«
Claas van Berck stand mit wild gesträubtem Haar in der weiten Diele seines Kaufmannshauses und scheuchte das Gesinde umher. Jeder griff sich etwas, hier einen Besen, dort eine Sturzbütte, nur um beschäftigt zu scheinen, dabei war längst alles geputzt und poliert. Einzig Tringin, die erste Hausmagd und Köchin, stand aufreizend gelassen da.
»Müsstest du nicht in der Küche sein, bei den Gänsen?«, erkundigte sich der Waffenhändler mit strengem Blick.
»Die Gänse sind tot und kommen im Ofen ohne mich zurecht«, erwiderte Tringin und verschränkte die Arme vor ihrem fülligen Busen. Hinter ihrem Rücken wurde Kichern laut.
Claas van Berck wirbelte – für sein Alter und seine Leibesfülle erstaunlich schnell – herum. Eine junge Frau mit rotem Haar kam die Treppe vom ersten Stock herabgesprungen.
»Sidonia! Hatte ich dich nicht gebeten, Lunettas Schlafgemach zu überprüfen? Ist das beste Leinen aufgezogen? Sind Bienenwachskerzen aufgesteckt? Hast du Rosenwasser versprengt? Ist die kleine Madonna aufgestellt? Diese schwarze Muttergottes auf der Mondsichel? Mein Reliquienhändler behauptet, dass man die in Spanien verehrt. Weiß der Teu…, ich meine, weiß der Himmel, warum!«
Seine Tochter schüttelte lachend den Kopf. »Vater! Es ist alles seit Stunden bereit. Lunetta ist kein so anspruchsvoller Gast, wie du denkst. Erinnere dich! Als ich sie das erste Mal herbrachte, kam sie als Gauklerkind, dem du nicht einmal ein Bad gegönnt hättest.«
»Sie liebt das Baden? Verflixt! Schnell, schnell, Tringin, setz die großen Kessel auf! Mach elf Schaff Wasser heiß!« Aufregung ließ Claas van Berck nach Luft schnappen. Pfeifend fuhr der Atem in seine Lungen, rasselnder Husten schüttelte ihn. Sofort war seine Tochter bei ihm.
»Vater, du musst dich ausruhen. Es ist genug getan.«
»Genug genügt nicht. Sie ist eine von Löwenstein! Von Löwenstein! «
Kurz verschattete Ärger Sidonias helles Gesicht, ihre grünen Katzenaugen blitzten. Den Namen von Löwenstein hatte ihr Vater schon immer angebetet wie eine seiner albernen Reliquien, den Tropfen von der Muttermilch Mariens oder den Strohhalm aus der Krippe Christi, die er in seiner Hauskapelle verwahrte. Energisch schob sie ihn durch die Tür zum Hauptkontor.
»Lass uns hier drinnen warten, dort können wir den Hof und die Toreinfahrt überblicken.«
Ein Feuer beheizte den behaglichen Raum mit der geschnitzten Balkendecke. Der Geruch von Papier, Tinte und Bleigewichten mischte sich mit dem Duft von Tannenzapfen, die auf dem Kaminrost Harz ausschwitzten. Sidonia drückte den Vater in einen Lehnstuhl, griff nach einer Zinnkanne und schenkte ihm von dem süßen Malvasier ein, den er so liebte.
»Trink, das beruhigt deine Nerven.«
»Hat Tringin am Morgen den Fingerknochen des heiligen Bavo in den Wein getaucht? Der Priester von Sankt Kolumba hat ihn mir gegen eine kleine Stiftung verehrt. Er sagt, Sankt Bavo heile jeden Husten.«
Sidonia verdrehte die Augen. »Ja, Vater.«
»Danke, mein Kätzchen.«
Seufzend ließ Sidonia ihrem Vater den alten Kosenamen durchgehen. Wann würde er endlich die erwachsene Frau von siebenundzwanzig Jahren in ihr sehen statt einer
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