Das Geheimnis der Tarotspielerin: Zweiter Band der Tarot-Trilogie (German Edition)
Gottes Sohn schien im eigenen Leid versunken. Lunetta biss sich auf die Lippen. Christus blieb stumm. So lange schon.
Herr, erbarme dich! Was bedeuten meine schrecklichen Ahnungen? Sprich zu mir, wie damals, als ich ein Kind war! Gib mir meine Gabe zurück.
Bedrohlich ächzten und knarrten die Eiben, ein splitterndes Geräusch verriet, dass der Sturm ihre Äste zerschlug. Die Bettler sanken auf die Knie. Lunetta löste ihre gefalteten Hände und ließ die Rechte in die Tasche ihres Pelzmantels gleiten. Zögernd betastete sie ein in Seide geschlagenes Kartenspiel und schloss die Augen.
Herr, vergib mir , flüsterte sie tonlos, während sie das Tuch aufnestelte, aber ich brauche eine Antwort.
Dann wählte sie mit zitternden Fingern eine Karte, deren scharfer Rand aus dem Stapel hervorragte. Vielleicht würde diese Karte sie wieder in Verbindung setzen mit … mit… Ja, mit was?
Gottes Stimme?
Mit dem Tod , warnte die Stimme ihres Vaters.
Er glaubte, das Spiel sei längst vernichtet. Die verbotenen Karten hatten ihre Mutter das Leben gekostet, sie dem Inquisitor Aleander gleichsam in die Hände gespielt, sodass er sie im Namen des Heiligen Offiziums als Ketzerin überführen konnte. Ihr Vater verabscheute das Tarot. Selten wurde die Mutter zwischen ihnen erwähnt, nie ihre Kunst.
Lunettas Blick sank zu dem ewigen Licht herab, das zu Füßen des Kreuzes flackerte. Lange versunkene Bilder lodernder Flammen, die am gelben Ketzergewand ihrer Mutter Mariflores fraßen, drängten in ihr hoch. Der Duft der Opferkerzen mischte sich mit dem Gestank schmelzenden Körperfetts, dem stechenden Horngeruch brennenden Haars. Sie sah den zum Schrei geöffneten Mund, in den dunkler Rauch eindrang, und vermeinte die sengende Hitze auf ihrer Haut zu spüren. Selbst die Karte brannte in ihrer Hand.
Nein, sie würde nie vergessen. Schaudernd und mit angehaltenem Atem zog Lunetta die Karte aus der Tasche, wagte einen Blick und erstarrte.
Heiß schoss ein Gefühl in ihr hoch, das die Furcht über Jahre verdeckt hatte. Ein Gefühl, welches das Kartenbild präziser spiegelte als jedes Gebet. Sie bemerkte, dass ihr Banknachbar in ihren Schoß schielte und heftig die Luft einzog. Sie drehte die Karte rasch um und reckte das Kinn entschlossen zum Kreuz.
Warum Demut zeigen vor einem Stück Holz? Wie Hoffnung schöpfen aus dem Anblick einer geschnitzten Puppe? Man konnte all dies leicht zu Asche verbrennen, so wie man ihre Mutter in seinem Namen verbrannt hatte. Warum musste stets etwas brennen für diesen Gott des Schmerzes? Warum nannte man ausgerechnet diesen Gemarterten einen Gott der Liebe? Lunetta erschrak, als in ihr wie von selbst Worte Gestalt annahmen, die Sünde waren.
Du nahmst mir die Mutter, als ich ein Kind war. Du lässt zu, dass mein Vater mich ein zweites Mal verlässt. Ich will nicht glauben an einen Gott, der Herzen wie meine schafft, nur um sie zu zerreißen. Herr, ich entsage dir!
Der Handwerker war dicht an sie herangerutscht, fauliger Atem streifte ihre Wange. Lunetta erschrak. Hatte sie die letzten Worte laut ausgesprochen?
»Wir müssen weiter. Es dämmert bereits«, raunte Goswin von oben herab.
Lunetta wandte ihm langsam das Gesicht zu. »Ich will nicht nach Köln. Sieh her.« Sie zog mit beinahe triumphierendem Lächeln die Karte hervor, die sie gezogen hatte.
Goswin keuchte und prallte zurück. »Die Karten! Was, zum Teufel…«, erwiderte er so heftig, dass die Kapelle vom Klang seiner Stimme widerhallte. Weiter kam er nicht.
Mit einem Knall zerbarst das Fenster über dem Gekreuzigten. Glas rieselte auf den Heiland herab, bunte Splitter schossen durch den Kirchenraum, schnitten sich in die Gesichter der Betenden. Ein schwarzer Ast bohrte sich ins Innere des Gotteshauses. Wie ein Henkersbeil sauste ein vom Sturm gefällter Baumriese durch das Kirchendach. Seine Nadelkrone riss den Allmächtigen vom Kreuz, sodass er auf den Altar niedersauste und Goswin unter sich begrub.
Lunetta schrie auf; der schwere Pelz glitt von den Schultern, als sie aus der Kirchenbank sprang.
Die vernichtende Sturmböe schluckte ihren Schrei. Sie fuhr mit Wucht durch das kleine Gotteshaus, wirbelte Messgerät und Kerzenhalter durch die Luft, hob Bänke in die Höhe, läutete die Glocken im Turm, drückte heulend die Kapellentüren auf und ließ sie wie zerschlagene Taubenflügel in den Angeln flattern.
Und verebbte.
Tiefe Stille senkte sich ins Kirchenschiff. Lunetta bemerkte es nicht, sie kniete bei Goswin. Quer über
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