Das Geheimnis der Wunderkinder
Du tapferer kleiner Junge. Donald«, wandte sie sich energisch an ihren Mann, »geh ein Glas warme Milch und Kekse holen!« Dann führte sie Jimmy in das altmodische Wohnzimmer und setzte ihn auf das Sofa. »So, Jimmy, nun ruhe dich einen Augenblick aus, und dann kannst du mir erzählen, was geschehen ist.«
Jimmy seufzte und blickte sich um. Das Haus war alt und gemütlich und gab ihm das Gefühl, eine sichere Zuflucht erreicht zu haben.
Großvater brachte das Glas mit der warmen Milch und einen Teller mit Keksen und setzte sich zu den beiden. »Was ist passiert, Jimmy?« fragte er dann.
»Mutter und Vater sind …«
»Du ißt jetzt erst einmal deine Kekse und trinkst die Milch«, befahl seine Großmutter. »Wir wissen es schon. Dieser Mr. Brennan hat uns ein Telegramm geschickt.«
Es war kaum länger her als vierundzwanzig Stunden, seit Jimmy Holden die fünf Kerzen auf seinem Geburtskuchen ausgeblasen hatte, und nun kam die Erinnerung auf einmal zurück. Noch nie hatte Jimmy so sehr einem normalen kleinen Jungen von fünf Jahren geähnelt wie an diesem Abend. Seine Worte überstürzten sich, und er nahm sich nicht einmal Zeit, richtige Sätze zu formen, und machte nur hier und da eine Pause, um Luft zu holen. Er war den Tränen nahe, noch ehe er die Hälfte erzählt hatte, und als er zum Ende kam, brach er in bitterliches Schluchzen aus.
»Jimmy«, sagte sein Großvater ernst, »übertreibst du nicht? Mr. Brennan würde so etwas bestimmt nicht tun.«
»Doch«, widersprach Jimmy heftig unter Tränen. »Ich habe ihn gesehen!«
»Aber …«
»Donald, jetzt ist nicht der Augenblick, das Kind zu verhören«, unterbrach die Großmutter, hob Jimmy auf ihren Schoß und streichelte seinen Kopf. Allmählich wurde sein Schluchzen ruhiger. Großmutter brachte von irgendwoher ein Taschentuch zum Vorschein und hieß ihn sich kräftig die Nase schnauben. Zu guter Letzt ließ sie sich von ihrem Mann ein warmes Tuch holen und wischte Jimmy damit die Tränen ab.
»So, und nun wollen wir erst einmal schlafen, bevor wir weiter darüber reden«, sagte sie bestimmt.
Das Federbett war weich und angenehm, und die Wärme hüllte ihn ein und ließ ihn seinen Kummer vergessen. Vom Weinen erschöpft, schlief er bald ein; hier fühlte er sich zu Hause und in Sicherheit, und das war gut.
Jimmy Holdens Eltern begegneten sich zum erstenmal an einem Operationstisch, in steriles Weiß gehüllt, das nur noch die Augen freiließ. Die Frau führte das Skalpell, das das Gehirn des Patienten freilegte, und der Mann kontrollierte den Zustand des Patienten, indem er die Aufzeichnungen auf der Papierrolle beobachtete, die aus dem Enzephalographen quoll. Sie verstand nichts von empfindlichen Apparaten, und er verstand noch weniger von Gehirnchirurgie. Nach der Operation waren sie in einer hitzigen Diskussion aneinandergeraten, die endete, als beide erkannten, daß sie kein Wort von dem, was der andere sagte, verstanden, und nach einer folgenden angeregten Unterhaltung kamen sie zu dem Schluß, daß Gehirnchirurgen mehr über die Feinheiten elektromechanischer Instrumente, und die Schöpfer empfindlicher Präzisionsapparate mehr über die graue Masse, die sie zu messen versuchen, wissen sollten.
Sie vereinigten ihren Intellekt und machten sich an das Problem, einen Enzephalographen zu schaffen, der die winzigen Unregelmäßigkeiten registrierte, welche die großen Schwingungen überlagerten. Ihre Arbeit erweiterte sich, und schließlich kauften sie das alte Gebäude auf dem Hügel und zogen dort mit all ihren Sachen ein. Sie wohnten und arbeiteten zusammen, bis Paul Brennan sie eines Tages darauf hinwies, daß die menschliche Gesellschaft Genies zwar bewundere, aber für das enge und ständige Zusammenleben zweier Unverheirateter wenig Verständnis aufzubringen pflege.
Also heirateten sie in aller Stille, etwa zwei Jahre, bevor Louis Holden die feinen Wellenlinien entdeckte, die durch bestimmte Gedanken hervorgerufen werden. Als er sie aufzeichnete und dann wieder ablaufen ließ, wiederholte sich auch in seinem Gehirn der gleiche ursprüngliche Gedankengang.
Zwei Jahre lang suchten sich Louis und Laura Holden langsam ihren Weg durch dieses Gebiet, um dann endlich, fünf Jahre nach ihrer Heirat, Erfolg zu haben. Es gelang ihnen, dem Gehirn Wissen einzuverleiben, indem sie, mit der Maschine verbunden, laut Wort für Wort das lasen, was sie zu wissen wünschten.
Es war das Prinzip des Auswendiglernens. Es war die Wiederholung immer der
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